Von Freundschaft und Tom Kha Gai: Eine Erzählung samt Rezept

Plötzlich, vorsichtig, als handele es sich um etwas Kostbares, Zerbrechliches, drückte Wulnikowski die Klinke meiner Haustür, wie er es immer getan hatte. Er trat in den Flur. Ich trat ihm gegenüber. Sein schwarzer Wollmantel tropfte. Draußen krachten Sintfluten nieder und duschten die blühenden Bäume. „Wo bist Du gewesen“, fragte ich. Er überhörte die Frage, sagte einfach: „Hör‘! Wenn man die Augen zumacht, klingt der Regen wie Applaus“, sagte er. Von draußen prasselten wilde Wirbel gegen die Scheibe. Wassertropfen tanzten. Autos und Sattelschlepper teilten das Meer auf der Straße. Eisige Böen bissen am Kragen vorbei in den Nacken. Menschen rannten unter Regenschirmen über Bürgersteige. Und dann sagte er: „An Tagen wie heute braucht man den Trost einer heißen Suppe, einer Suppe, die scharf ist und belebt, und die zugleich sanft und mild ist, als ob sie Dir liebevoll regennasse Strähnen aus der Stirn streicht.“ „Hast Du getrunken?“ „Nein.“ „Aber sag, wo warst Du all die Jahre?“, fragte ich. „In Thailand.“ „Was?“ „Doch, in Thailand. Und an vielen weiteren Orten.“
Wulnikowski war mein bester Freund gewesen. Wir hatten die Tage oft an der Hafenkante verbracht, Beine baumelnd, Stellenanzeigen mit optimistisch rotem Filzstift eingekreist, Pläne geschmiedet, vom Verreisen geträumt und uns ausgemalt, wie es wäre, nach London zu ziehen oder ein Café zu eröffnen, das sich um Meerschweinchen drehte. Und jeder Plan hatte endgültig geklungen bis zum nächsten Morgen. Woche für Woche. Als wir eines Nachts im Südpark den buttermilchfarbenen Halbmond wie einen abgeklipsten Fingernagel bestaunt hatten, sagte er aus dem Nichts, „sogar in einer zerbeulten Coladose steckt Poesie“. Doch eines Tages verschwand Wulnikowski plötzlich. Wortlos. Aus der Stadt, aus unserem Leben. Es war das Ende der Welt, wie wir sie gekannt hatten. Er hatte seinen Koffer gepackt, ein halbes Toastbrot aus seinem Küchenschrank für die Tauben als Futter aufs Vordach gekrümelt und war gegangen. Ohne Erklärungen, ohne erklärtes Ziel.
Die Jahre hatten die Erinnerungen ausgeblichen, verwaschen, Momente fortgespült. Draußen lief ein mit Laub verstopfter Gulli über. „Ich musste raus. Es war Zeit“, sagte er, „und so bin ich gegangen. Aber jetzt bin ich zurück.“ „Wie schön. Aber was bringt Dich nach all den Jahren wieder hierher?“ „Ich möchte eine Suppenküche eröffnen und Trost spenden.“ „Eine Suppenküche?“ „Ja. Es wird nur ein Gericht geben, Tom Kha Gai.“ „Wieso das?“ „Noch bei der Ankunft am Flughafen in Bangkok hat mich ein Tuktukfahrer, Nathapong, angesprochen, weil ich so traurig ausgesehen habe, und er hat mich zu seiner Mutter gefahren, in deren Wohnung es ein leerstehendes Zimmer gab. Darin bin ich für einige Zeit eingezogen. Sie hat mich diese Suppe kosten lassen, und ich habe zum ersten Mal in meinem Leben Trost löffeln können. Und alles Verquere in mir verschwand auf einmal.“ „Verrätst Du mir das Rezept?“ „Klar.“
Er zog eine Kladde aus seinem Rucksack, darin krakelige Zutaten- und Zubereitungszettel. Darauf stand:
Für 4 Personen:
1,5 Liter Hühnerbrühe oder Hühnerfond
500 Gramm Hühnerbrust
2 Dosen dickflüssige Kokosmilch (keine Halbfettkollegen)
1,5 Esslöffel brauner Zucker oder Palmzucker
4 Stängel Zitronengras (frisch, aus dem Asialaden oder Gemüseabteilungen in gut sortierten Supermärkten), die 4, trockenen Schichten abgefriemelt, das trocken-harte Grün abgetrennt und beiseitegelassen, den Rest in ganz feine Scheibchen geschnitten
5 Bananenschalotten oder fünf kleine rote Zwiebeln, geschält und fein gewürfelt
1-2 TL Koriandersamen
3 rote Chilis, halbiert und in feine Ringe geschnitten. Wer es scharf mag, wagt es, die Kerne drinzulassen, alle anderen schrubben sie lieber raus und beiseite.
4 cm Galgantwurzel (gibt es tiefgefroren im Asialaden) oder frischen Ingwer (Galgant schmeckt feiner, aber Ingwer ist deutlich einfacher zu kriegen), geschält, in 1cm dicke Scheiben geschnitten und dann in einer Pfanne ohne Fett heiß von beiden Seiten geröstet, bis die Haut bräunt. So karamellisiert der Zucker darin, und der Geschmack wird milder. Dann mit einem Sparschäler die gebräunte Haut abschneiden und den Rest in feine Würfel oder Scheibchen schneiden.
400 Gramm frische Pilze (bevorzugt Pfifferlinge oder Austernpilze, aber Champignons sind auch gut), geputzt, angetrocknete Stielkappen abgeschnitten, halbiert oder in Scheiben geschnitten
6-8 EL Fischsauce (Nam pla, gibt es im Asialaden)
8 Kaffir-Limetten-Blätter
2 Bio-Limetten
1 Bund frischer Koriander
Meersalz
„Wenn das Fleisch besonders zart und saftig sein soll, dann reibe es schon einen Tag vor dem Kochen mit Salz ein und lasse es einfach über Nacht stehen“, sagte Wulnikowski.
„Verliert das dann nicht unnötig viel Wasser und wird zäh?“, fragte ich.
„Das Salz zerlegt das Muskeleiweiß im Fleisch, macht es zarter und sorgt dafür, dass die Eiweiße im Fleisch beim Erhitzen nicht alle Flüssigkeit rausdrücken, sondern sogar welche aufnehmen.“
„Das ist ja was.“
„Und wenn Du die Suppe lieber vegetarisch kochen möchtest, ersetze das Hühnerfleisch einfach durch weitere Pilze.“ „Wie kocht man sie denn?“
„Du schneidest das Fleisch, wenn Du es verwendest, in etwa einen Zentimeter breite Streifen. Dann nimm einen Topf, der mindestens vier Liter fasst und bring darin die Brühe und die Kokosmilch zum Kochen. Falls Du hast, schnapp Dir einen Mörser, gib die Schalottenwürfel, Zitronengrasfitzelchen, den Großteil der Chilis und die Koriandersamenkörnchen hinein und zerquetsch sie mit kräftigem Reiben und Drücken im Kreis. Das allein kann schon helfen, Frust loszuwerden. Wenn Du das eine kleine Weile gemacht hast. wird daraus eine Paste.
Die kannst Du dann gemeinsam mit den Kaffir-Limetten-Blättern und dem Galgant oder Ingwer zum Gebrodel dazugeben. Lass es ein paar Minuten weitersprudeln, dann senk die Hitze und gib das Hähnchenfleisch undoder die Pilze dazu.
Würze das Ganze mit der Fischsauce (ab dem fünften Löffel sorgsam rühren und nachschmecken, ob es passt, die Saucen sind unterschiedlich salzig und intensiv) und mit dem Zucker, presse die Limetten hinein (falls Du keine Presse zur Hand hast, halbier‘ sie und drück die Hälften von innen mit dem Daumen aus – und wenn Du etwas mehr Zitrusfrische magst, raspel‘ vorher die Schale von zumindest einer Limette mir einer Reibe oder einem Zestenreißer dazu). Lass das Ganze etwas köcheln, vielleicht eine Viertelstunde, zumindest aber, bis das Hähnchen undoder die Pilze durchgegart sind. Dann schmeck noch einmal ab und prüfe, ob alles passt. Wenn ja, schnapp Dir eine Suppenschüssel und befüll sie, gib die restlichen Chilischnitze und die grob gehackten Korianderblätter dazu und lass Dich trösten.“
„Woran erkenn ich denn, ob alles passt?“ „Die Fischsauce schafft weit mehr als nur Salzigkeit, sie schafft Tiefe, insbesondere mit den Pilzen. Die geben selbst auch ihren Teil zur Vollmundigkeit dazu, und zusammen mit der zitrusfrischen Limettensäure, der Zuckersüße, dem karamellisierten Galgant oder Ingwer und der belebenden Schärfe der Chilis und der friedliebenden Milde der Kokosmilch verbinden sich die Aromen plötzlich zu einem verzaubernden Paradox, sind gleichzeitig scharf und mild, salzig, sauer und süß. Das macht sie zur Suppe, Suppe, die scharf ist und belebt, und die zugleich sanft und mild ist, als ob sie Dir liebevoll regennasse Strähnen aus der Stirn streicht. Und irgendwie geht so von ihr diese Art tröstender Magie aus, als ob plötzlich in Dir die Sonne strahlt und Dich wärmt von dort, aus den Tropen, wo her sie kommt. Wobei man sie selbstredend immer essen kann, nicht nur, wenn die Welt untergeht und Wolken brechen.“
Musik zum Gericht
Natürlich schmeckt das Gericht nach Palmenstränden, an denen man mit feinen Sandkörnern zwischen den Zehen in Sonnenuntergänge eintauchen kann. Aber, weil es zum Schietwetter passt und sogar in Anspielungen zitiert worden ist, gibt es diesmal einen Song meines Freunds Enno Bunger: Regen.
Ich liebe die Kombination aus Essen und Geschichten!
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Das freut mich sehr! 🙂
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Das freut mich enorm!
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Ach immer wieder köstlich…..literarisch UND kulinarisch 🙂
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Köstlichsten Dank, Du Tolle! 🙂
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Tolle Geschichte. Ich habe die ganze Zeit auf die Quellenangabe gewartet😂. Hat Wulnikowski es im Restaurant Business geschafft? Das Rezept von ihm ist toll und das nächste Schietwetter könnte der Anlass zum Nachkochen sein.
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Er hat eine Zeit lang Tauben gesammelt, in der Fußgängerzone. Das war kommerziell allerdings wenig erfolgreich. 😉
(Und die eigentliche Quelle ist eine in vielen Punkten selbst abgewandelte Cuvée mehrerer Tom-Kha-Gai-Rezepte – unter anderem aus „Thai Food“ von David Thompson. Der Rest ist in diesem Fall fiktiver Unfug. In Sachen meines liebsten sri lankischen Chicken Currys – und wie ich kurz zuvor von einer Frau, die ich zuvor nur zwei Minuten gesehen hatte, einen Heiratsantrag bekam, wird in Kürze eine neue Geschichte kommen, die dann auch komplett wahr ist 🙂 )
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Ich bin durch Zufall über dich gestolpert und finde es klasse eine toll erzählte Geschichte zu lesen und dabei ein Rezept für ein vermutlich super leckeres Rezept zu bekommen. Ich glaube ich muss das mal probieren, wenn es mir gelingt einen Asia Laden hier in der Stadt zu finden 😀
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