
Vielleicht schaffe ich es ja irgendwann mal nach Raron im Wallis. Unterhalb steil aufragender Alpengletscher, inmitten wilder Natur, wo eine spitzbetürmte Kirche auf einem Felssporn oberhalb des Ortes aufragt. Denn dort, ja dort liegen die Gebeine von Rainer Maria Rilke begraben. Und wenn ich da wäre, könnte ich seinem Grabstein die Frage zuraunen: „Wie groß war denn dieser Sommer?“ Rilke selbst baut sich kein Haus mehr, und wer wie er jetzt tot ist, wird es lange bleiben.
Bei allem, wird es lange dauern, und ich selbst werde diesen Sommer bis dahin womöglich längst vergessen haben, von dem wir uns aber verabschieden mussten. Jetzt umrascheln welk herabgesegelte Blätter die Füße wieder bei jedem Schritt. Wie in jedem Jahr erwäge ich Fratzen in einen Kürbis zu schnitzen – und werde es wie in jedem Jahr mutmaßlich am Ende doch nicht tun. In meinen Jackentaschen kullern wieder ein paar Kastanien herum, und in der vom Dachboden geholten Winterjacke steckte noch ein kleiner Geldschein vom Vorjahr. In den Tassen drinnen, während draußen milde Stürme wispern, dampft häufiger heißer Tee. Und mitunter schwimmen darin Spekulatiusbrocken von Stücken, die beim Einstippen schlapp abgebrochen sind und weiterbaden wollten.

Jetzt ist ja eine gute Zeit für Spekulatius, eigentlich weit besser als im Advent, sind die Kekse jetzt doch noch deutlich frischer und knuspriger. Und wie in jedem Jahr denke ich dann kurz darüber nach, vielleicht in einem anderen Leben mal selbst Spekulatiusfabrikant zu werden – und dann Packungen auf den Markt zu bringen, in denen es nur Mühlen gibt. Vielleicht nach meinem Lieblingsrezept. Weil, wen immer ich kenne und frage: Alle sagen: „Mühlen esse ich am liebsten.“ Was vielleicht ein Psychologe mal untersuchen könnte, woran das wohl liegt, weil in der Blindverkostung zerbröselter Kekse würde man nie einen Unterschied schmecken zu den anderen rätselhaften Formen, die altertümliche Löwen oder sonstwas darstellen sollen.

In diesem noch recht frischen Herbst, manche sagen Frühling des Winters dazu, habe ich bei allem etwas erleben dürfen, nachdem ich mich lange gesehnt habe – und das manch anderer verpasst hat, weil Schlaf, weil Wolkenberge, weil nicht gewusst oder gesehen, und das deshalb traurig gestimmt hat: Denn in der Nacht auf Freitag tobte ein Sonnensturm überm Firmament, britzelten Magnetfelder und tauchten den Nachthimmel vor den funkelnden Sternen plötzlich in kräftiges Pink, in Neongrün, in wundersam wandelnden Wendungen: Polarlichter, die nicht nur auf Kamerasensoren anschlugen, sondern mit bloßem Auge sichtbar waren, weil sie das Firmament fluteten.

Es sind Anblicke, Eindrücke, die tief gehen. Von Blicken getrunken, aufgesogen, verschlungen. Vermutlich sehr lange erinnert – umso mehr, wenn man in tiefster Nacht „am Arsch der Heide“ im weltentlegenen Nichts am Jümmedeich plötzlich fotografierend neue Menschen kennenlernt. Und gemeinsam Wunder bestaunt, die das Firmament in eine leuchtende Tanzfläche verwandeln.

Im Erinnern und Erleben sind Synästheten klar im Vorteil, die mir vielleicht sogar verraten könnten, wie Polarlichter schmecken. Auf welche Weisen die Zunge prickelt und knistert im Anblick der Farbenspiele am Firmament. Zumindest farblich kommt der Aurora nahe, was auch gut in den frühen Herbst passt: eine herzhafte Rote-Bete-Suppe, die in ihrer zartsüßen Erdigkeit auf Abwege gebracht und in den nahen Osten entführt wird, indem darin neben so bodenständigen Zutaten wie den Knollen und Kartoffeln auch Granatapfelsirup zarte Säure beisteuert und Kreuzkümmel und Koriander die Vorhänge des Gaumenzelts am Eingang zum Orient aufziehen. Das spätestens hat außer der Farbe zugegeben nicht mehr sehr viel mit Polarlichtern zu tun. Wobei in dieser so besonderen Nacht die Aurora ja tatsächlich sogar im Mittelmeerraum noch bestaunt werden konnte. Und Hochgenuss sind sowohl der Anblick der Polarlichter wie auch diese Suppe. Herrlich einfach zu kochen (man muss nur alles gemeinsam in einen Topf werfen) und dafür unglaublich komplex und raffiniert in den Aromen.

Zutaten für die orientalische Rote-Bete-Suppe
300 Gramm Rote Bete, gern frisch und geschält, alternativ vorgekocht und vakuumiert
2 Lauchzwiebeln, fein geringelt, holzige Schichten vorher abgezogen, oder eine dünne Stange Lauch
1 große rote Zwiebel, abgezogen und feingehackt
600 Gramm Kartoffeln
2-3 Knoblauchzehen, abgezogen und feingehackt
3-4 kleine Möhren, geschält und in dünne Scheiben geschnitten
2 TL Koriandersamen
2 TL Kreuzkümmelsamen
2 Lorbeerblätter
1,5 Liter Gemüsebrühe
Schale einer halben unbehandelten Zitrone
2-3 EL Granatapfelsirup (nicht das zuckersüße quietschpink gefärbte Cocktailzeugs von Bols, sondern das gute säuerlichere aus orientalischen Läden)
2 EL Dillspitzen
frischer Koriander, Blätter abgezupft
1 rote Chili, entkernt und fein geringelt
2 EL neutrales Speiseöl oder Olivenöl
Salz
Pfeffer
griechischer Joghurt (oder pflanzlicher Joghurt, wenn es vegan sein soll)

So bereitet man die orientalische Rote-Bete-Suppe zu
1 Erstmal schälen und schnippeln: Zwiebel und Knoblauch häuten und feinhacken, Frühlingszwiebel/Lauch von trockenen Strunkteilen befreien, putzen und fein ringeln, Kartoffeln schälen und in Würfel oder Stifte schneiden, Möhren schälen und in dünne Scheiben schnippeln, und auch die rote Bete schälen, so Ihr frische nehmt. Und auch die am besten in feine Scheiben schneiden. Die Koriander- und Kreuzkümmelsamen mörsern (oder gemahlene Gewürze nehmen, auch wenn die blasser schmecken als frisch gemörsert).
2 Öl in einem Suppentopf bei niedriger bis mittlerer Hitze auslassen. Die Zwiebeln darin mehrere Minuten goldglasig dünsten, dann den Knoblauch sowie Koriander- und Kreuzkümmelgemörser dazugeben und noch eine Minute mitschmurgeln. Die Frühlingszwiebeln/den Lauch, die Möhren und die Kartoffeln dazugeben und mitknuspern lassen.

3 Die Rote-Bete-Scheiben ebenfalls ins Getümmel stürzen. Kurz mitrösten.

4 Dann das Ganze mit anderthalb Litern kräftiger Gemüsebrühe ablöschen. Die Lorbeerblätter dazulegen. Und zugedeckt etwa gute 20 Minuten köcheln lassen. Dann für Raffinesse aus 1001 Nacht den Zitronenabrieb und den Granatapfelsirup hineinzaubern, den Dill kleinzupfen und darüberstreuseln und das Ganze mit Salz und Pfeffer abschmecken. Und eventuell mit einer Prise Zucker oder Ahornsirup, je nachdem, wie kräftig die Säure des Granatapfelsirups ist. Und dann darf der Pürierstab noch einen großen Auftritt bekommen – oder auch nicht, je nachdem, ob Ihr es sämig am Gaumen mögt oder Ihr Freude am Ertasten und Zerdrücken der verschiedenen Konsistenzen am Gaumenzelt habt.

5 Wer mag, streuselt zum Schluss noch frischen Koriander oder glatte Petersilie darüber, und serviert die Suppe mit einem kräftigen Klecks Joghurt (oder pflanzlichem Joghurt, wenn es vegan bleiben soll). Guten Appetit. Damit lässt sich die Wartezeit satt und glücklich vertreiben, bis vielleicht doch noch einmal wieder die Polarlichter den Himmel überzaubern.
Musik zum Menü
Vielleicht ähnlich einzigartig wie Polarlichter mitten in Ostfriesland nachts am Himmel bestaunen zu können ist, was ein Kurator der Morgan Library & Museum in New York geschafft hat: beim Sichten alter Dokumente ist er auf einen Walzer in der Handschrift Frédéric Chopins gestoßen, den die Welt noch nie gesehen hatte. Und welch besondere, wilde Magie dieses zauberschöne Stück in a-Moll verströmt, das Experten zufolge wirklich von Chopin stammt und er wohl in seinen frühen 20er Jahren zwischen 1830 und 1835 verfasst hat. Der großartige Lang Lang hat es wildschön eingespielt:
Ebenfalls zauberschön, still und wundervoll wie die am Himmel tänzelnden Polarlichter: „Feel first life“ von Jon Hopkins. Fast ein wenig ätherisch. Und dämpft zart und dezent das Schweigen, während man köstliche Rote-Bete-Suppe genießt.
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Was für tolle Bilder!!! Ich gehöre zum Team „Nicht gewusst und geschlafen“ und wünsche mir doch so sehr, solche Polarlichter auch mal live zu sehen! 🥹
Das Süppchen passt farblich perfekt und es würde mich nicht wundern, wenn Polarlichter tatsächlich nach Rote Bete schmecken. Und gut, dass Du auf den richtigen Granatapfel-Sirup hingewiesen hast! Sicher ist sicher! 😅
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SAGENHAFT, WUNDERBAR! Ich kanns nicht anders beschreiben und bin schon ein bisserl neidisch, denn hier in Österreich sieht man sowas eher nicht. Einfach umwerfend, deine Bilder ❤️
Alles Liebe!
Maria
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In besagter Nacht waren die Polarlichter indes sogar noch viel weiter südlich in Montpellier in Südfrankreich klar sichtbar. Vielleicht auch bei Euch? Aber tausendundeinen Dank für Deine lieben Worte! Wie schön, dass Du reinschneist!
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moin Ole,
deine Fotos sind ja der Knaller schlechthin, ein Maler hätte die Polarlichter nicht besser hinbekommen. Vor allem hätte man angenommen, sie wären ausgedacht und künstlerische Freiheit. Klasse.
Liebe Grüße aus dem Rheinland von Karin
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