
Ich bin noch nie über einen ausgestopften Tigerkopf gestolpert. Glücklicherweise bin ich auch nie mit dem Fuß an einem lebendigen hängengeblieben. Ich habe nie versucht, aus einer Zinnvase zu trinken, in der noch ein Blumenstrauß steckt, um dann Katzen Morddrohungen entgegenzulallen. In der Regel knalle ich auch nicht die Hacken zusammen, während ich salutierend „Skål!“ rufe. Anders als Mister Winterbottom habe ich auch noch nie einen Basar für eröffnet erklärt.
Nun sehe ich leider viele meiner Freunde viel zu selten, wie es gern passiert, wenn man sich nach Schule fürs Studium verstreut, dort in der aufregenden Fremde der Uni-Städte weitere tolle Menschen kennenlernt und sich nach dem Abschluss wiederum verstreut. Unsichtbar sind sie aber nicht. Zumindest dann nicht, wenn wir uns direkt gegenüberstehen. Das ist schön. Und gestorben sind glücklicherweise nur ganz wenige.
Das und einiges mehr unterscheidet mich von Miss Sophie. Die feiert auch in diesem Jahr an Silvester wieder ihren 90. Geburtstag in der legendären Kult-Sendung „Dinner for One“ mit Butler James und den vier Geistern ihrer verstorbenen Freunde, die in den Diener fahren. Zum Abschluss eines Jahres, das sich gern selbst an den Nagel hängen darf.
Schon vor sehr vielen Silvestern, als Kind, habe ich mich gefragt, wie denn wohl schmeckt, was Miss Sophie kredenzt bekommt.
Wie mag der Koch, der ähnlich unsichtbar bleibt wie die Freunde von Miss Sophie, den Schellfisch – north sea haddock – zubereitet haben? Millionen Möglichkeiten, es bleibt aber rätselhaft und in Schwarz-Weiß kaum zu erraten. Butler James bleibt auch sehr diskret ob der Beilagen und Würzweisen.
Beim „Hähnchen“ als weiterem Hauptgang ebenfalls. „A very fine bird, Miss Sophie“. Welche Aromen ihn umhüllen, ob er gedämpft, gegrillt, gebraten, gebacken wurde, ob die Haut noch dran ist, und wenn: labbrig? kross?, versteckt sich in der Schatztruhe gut gehüteter Geheimnisse.
Und welche Früchte Butler James zum Nachtisch serviert? Man kann kaum mehr als Ahnen. James selbst und all den unsichtbaren Freunden bleibt ja eh nur hochprozentige Flüssignahrung.
Doch da ist die Suppe, die James auftischt als Vorspeise. „Mulligatawny Soup“. Und die brachte meine kochbegeisterte und neugierige Mutter eines Tages in meinen Jugendjahren bei uns auf den Tisch: Schon der erste Bissen ließ die Geschmacksknospen verwirrt, aber vor Begeisterung überschwänglich tanzen.
Das schmeckte so anders als alles, was ich kleiner Ostfriese bis dahin kannte. War ich doch noch nie nach Asien gereist zu dem Zeitpunkt, eher mit Rad und Zelt durch die Bretagne, die Holsteinische Schweiz oder entlang der Ostseeküste bis Usedom gefahren.
Fruchtig und doch würzig, voll schillernder Aromen, geheimnisvoll. Eine rätselhafte Mischung, in der Curry und Äpfel, in manchen Varianten auch Mangos und Ananas, sich mit ihrer fruchtigen Süße in den Vordergrund spielen, Ingwer sich den Weg zur Theke beißt, frisch gepresste Zitrone sich mit saurer Miene unters Volk mischt, Schmand hochkochende Gemüter beruhigt und die klassische Salzigkeit einer Suppengrün-Brühe die Ordnung wieder herstellt: Als ob sich eine klassische Hühnersuppe für einen großen Kostümball verkleidet hätte. Nichts anderes war diese Suppe aber auch von Anbeginn.

Woher stammt die Mulligatawny Soup aus „Dinner for One“?
„Mulligatawny Soup war eins der frühesten Gerichte, die aus der neuen Hybrid-Küche entstanden, die die Briten in Indien entwickelten und in der sie britische Vorstellungen, wie Gerichte aufgebaut und serviert werden sollten, etwa als Suppen oder Eintöpfe, mit indischen Rezepten verbanden“, hat Lizzie Collingham in ihrem Buch „Curry: A Tale of Cooks and Conquerors“ geschrieben. Und darüber, wie der Name des Gerichts auf den tamilischen Namen für „Pfefferwasser“ anspielt. Ihr zufolge hieß es „Molo tunny“, laut der berühmten indischen Kochbuchautorin Madhur Jaffrey nannte man es „millagu-thannir“.
So nennt man in Madras, wo dem Schöpfungsmythos nach der Ursprung der Suppe liegen soll, eine beliebte ayurvedisch heilende, scharfe Vorstufe zur Brühe, ein „Rasam“, in dem Wasser mit Pfeffer, Chilis und Tamarinde gekocht worden sein soll.
Die Kolonialherrscher des britischen Empire ließen sich bereits im späten 17. und frühen 18. Jahrhundert „Pfefferwasser“ servieren. Aber nicht so karg und reinigend, wie im Ursprung des Arme-Leute-Essens, sondern von den Küchenbrigaden in ein luxuriöses Potpourri verwandelt. Darin landete von Fleisch bis zu den üppigen Frucht- und Gemüse-Ernten ein Füllhorn von Zutaten. Und weil die Kolonialherren so verrückt nach dieser Luxussuppe waren, gelangte sie auf Handelsseglern in ihre nebelverhangene Heimat. Heute, Jahrhunderte später, ist diese Suppe ein Paradebeispiel dafür, wie zwei kulinarische Kerne in der „brindischen“ Küche verschmelzen. Und sie ist eins der verwirrendsten.
In Küchen, vor denen der englische Regen niederging, blubberten alsbald ebenfalls Suppen dieses Namens, serviert für hohe Herrschaften, denen der Sinn nach Exotik stand. Doch schon bald verschwand das Gros der Ursprünge im Zuge der Verwandlung. Gab es doch viele frische Zutaten, die in Indien in der Suppe schmurgelten, in der nordischen Frische Englands gar nicht. Das Gericht verlor seine Schärfe, seine Einfachheit und seine Funktion, es gewann eine irre Vielfalt, passte sich an, wurde aber zugleich fast zu einer leeren Begriffshülle, die womöglich jeder für sich so füllte, wie er sich dieses exotische Gericht vorstellte – oder was grad so in der Küche rumlag und wegmusste.
Rezepte wurden damals oft nur extrem verkürzt auf Zettel gekritzelt. Köche, wenn sie denn lesen konnten, machten daraus etwas, aber – wie sollte es anders sein? – oft angelehnt an das, was sie kannten und zur Verfügung hatten, und was dem eigenen Gaumen mundete. Und so entstanden Suppen, in denen etwa Lamm, Gurken, Tomaten und Eierkürbis schwammen. Weil Lamm mit seinem bitzigen Geschmack nicht jedermanns Gaumenglück entfacht, entwickelten sich ungezählte weitere Varianten, wobei sich diejenigen mit Hühnerfleisch am weitesten verbreitet haben. Mit dem südindischen Vorbild hat auch sie kaum mehr etwas gemein. Wie es unter dem Sammelbegriff „Mulligatawny“ längst eine irrwitzige Fülle von Suppen gibt, für die man ein eigenes Kochbuch herausgeben könnte, weil sie sich so stark unterscheiden.
Das Rezept, das ich hier vorstelle, ist sehr nah an dem, wie es meine Mutter seit vielen Jahren immer wieder kocht und wie ich es lieben gelernt habe. Darin schwimmen Äpfel und Huhn in einer würzigen Brühe, der Ingwer würzigen Zunder verleiht und Madras-Curry, Koriander und Sternanis wundervolle Komplexität geben, Schmand die freien Aromenradikale vom Baum holt und beruhigt. Nur zum Vergleich: In seinem grandiosen „Comfort“ serviert Yotam Ottolenghi eine Suppe gleichen Namens, in der neben Huhn auch roter Reis aus der Carmargue, rote Spaltlinsen, Kichererbsenmehl, Limettensaft, Karotten, Paprikaschoten, Kokoscreme und eine „Tadka“ aus in Fett geröstetem Kreuzkümmel- sowie schwarzen Senfsamen, grünen Chilischoten und Curryblättern landen. In beiden Varianten, anders als im Ursprung: keine Tamarinde, wenig Chilis und Pfeffer.
Ottolenghis Variante ist kaum fruchtig. In manch anderen findet man aber auch Mangostücke und Ananas. In diesem nicht. Andere nutzen auch klassische indische Würzpasten, diese Suppe geht ihren eigenen Weg. Aber das Ziel, an dem es ankommt, finde ich unglaublich lecker. Und die Liebe, mit der meine Mutter die Suppe kocht, allein macht sie zu etwas Besonderem!
Und Besonderes, besonders Schönes insbesondere, wird und mag Euch hoffentlich auch begegnen im neuen Jahr. In der Hoffnung, dass es voll positiver Überraschungen, begeisternder Begegnungen, erfreulicher Entwicklungen, wundervoller Wendungen stecken wird. Auf dass vielleicht auch Vernunft, wechselseitige Wertschätzung, Respekt, Herzlichkeit und Seinlassenkönnen eine Renaissance erleben in Zeiten, in den zuletzt Hitzköpfiges, Polemisches, Krawalliges, Spaltendes um sich gegriffen hat. Auf dass das kommende Jahr ein wenig wie diese Suppe sein wird, unglaublich vielfältig, bei jedem ein bisschen verschieden, aber spannend, hinreißend, wohltuend.
Und egal, ob Ihr heute Butler James beim verordneten Sturz ins Delirium zuschaut, ob Ihr über Mr. Winterbottom feixt, ob Ihr ein edles Menü auftischt, Fondue auf Euren Tischen im Fett brutzelt oder Ihr Raclettepfännchen mit Kleinigkeiten füllt: Rutscht gut ins Neue! Habt’s schönstmöglich! Vielleicht mit dieser Suppe. Die ist zumindest so ein Knaller, dass man sonst keine Böller mehr braucht. Und die Aromen schillern fast so bunt und klar wie das verglühende Schwarzpulver der Raketen im Nachthimmel. Das Gute bei der Suppe bleibt aber: anders als bei Raketen und Böllern kann man es damit das ganze Jahr hindurch immer wieder von Neuem krachen lassen. Auch dann, wenn kein Silvester ist – und egal, ob Miss Sophie mit einem „Dinner for one“ Geburtstag feiert.

Was kommt in die Mulligatawny Soup rein?
400 Gramm Hähnchenbrustfilet (möglichst bio)
1 Bund Suppengrün
1 Zwiebel
1/2 Bund Frühlingszwiebeln
2 Knoblauchzehen
1 kleine Knolle Ingwer (etwa 30-40 Gramm)
100 Gramm Butter oder Ghee (Butterschmalz)
1 Lorbeerblatt
2 Nelken
2 Sternanis
2 EL scharfes Madras-Curry (alternativ: welch Curry-Pulver Ihr eben habt)
2 TL gemahlenen Koriander
1/2 TL gemahlene Kurkuma
200 Gramm Schmand
50 Gramm Basmati- oder Milchreis
2 Äpfel
1,5 Liter kräftige Hühnerbrühe (gern selbst gekocht, alternativ aus gekörnter Brühe mit anderthalb Litern heißem Wasser aufgegossen)
Saft einer Bio-Zitrone oder -Limette
1 rote Chili, kleingeschnitten
2 TL gemahlenen schwarzen Pfeffer
Salz
frischer Koriander oder glatte Petersilie
So wird die Mulligatawny Soup gemacht
Die Hühnerbrust gern tags zuvor schon salzen und kühl stellen, zumindest aber frühestmöglich salzen. Vor dem Kochen in Würfel schneiden, vielleicht zwei Zentimeter groß.
Einen großen Topf auf mittlerer Stufe erhitzen. Die Butter darin auslassen und das Fleisch darin anbraten. Suppengrün putzen, schälen und in kleine Würfelchen schneiden, Frühlingszwiebeln putzen, abwaschen und in feine Ringe schnippeln.
Die Zwiebel ebenso wie den Ingwer und den Knoblauch schälen und in winzige Würfelchen schneiden (per Hand, nicht per Küchenmaschine, sonst wird es bitter!). Alles mitdünsten und zart anschmoren.
Kurkuma, Koriander, Curry und Nelken zugeben und das Butterfett die Aromen lösen lassen. Dann den Schmand zugeben (warum so früh, muss ich meine Mutter mal fragen) und fünf Minuten schmurgeln lassen.
Danach die Brühe angießen und zum Kochen bringen. Die beiden Sternanis-Dolden und das Loorbeerblatt in einen Teebeutel stecken, zuknoten und im Gebrodel ziehen lassen. Etwa zehn Minuten kochen lassen. Dann den Reis einstreuen, sorgsam rühren, damit er nicht nur an einer Stelle am Boden festklumpt und weitere 15 Minuten kochen lassen.
Währenddessen die Äpfel putzen und auf hauchfeine Scheiben, Stifte, Würfel oder in welche Form auch immer schneiden, die Euch gefällt, nur dünn geschnitten sollten sie sein. Hineinpurzeln lassen und noch weitere 5 bis zehn Minuten kochen. Das Gebrodel kräftig pfeffern und auch die kleingeschnippelten Chili-Schnitze hinzugeben. Das Gewürzsäckchen herausklauben, bevor das Servieren beginnt; das möchte ja niemand auf dem Teller haben.
Den frischen Koriander (wer den nicht mag, nimmt in diesem Fall vielleicht am besten glatte Petersilie) kleinhacken. Die Suppe am Ende mit Zitronensaft und – falls noch etwas Sattheit im Geschmack fehlen sollte – vorsichtig mit Salz und Pfeffer abschmecken. Heiß servieren, mit den frischen Kräutern bestreuen. Guten Appetit – und noch besseren Rutsch!
Musik zur Suppe
Diesmal könnte ich tatsächlich mal ein Getränk zur Suppe empfehlen. Oder Miss Sophie eins empfehlen lassen. „I think we’ll have Sherry with the soup.“ Ich habe keinen zu Hause. Aber Musik. Und um die geht es hier ja. Vielleicht am Passendsten: Lew Pollacks „Charmaine“ in der Version von Joe Loss, Victor Silvester und dem Ballroom Orchestra, wie es auch zu Beginn der berühmten NDR-Fassung im Sketch erklingt, nur hier eben in voller Länge:
Und wenn man schon das neue Jahr begrüßt, kann man das aufs Wundervollste mit diesem Song von einem der schönsten Indie-Rock-Alben der letzten Jahre: „This is the new year“ vom herrlichen „Transatlanticism“ von Death Cab For Cutie.
Ein weiteres wundervolles, witzschnodderiges, zarttristes Lied, um das neue Jahr zu begrüßen, ist „Neues Jahr“ von Gisbert zu Knyphausen.
Doch dann ist da noch das „Brindische“, die Verbindung Britanniens und Indiens. Da passt zum einen wunderbar, wie Cornershop „Norwegian Wood“ der Beatles auf Indisch mit flirrenden Sitarklängen aus seiner skandinavischen Schlichtheit reißen.
Und dann ist da noch, zumindest namentlich mit dem Subkontinent verbunden, der famose „Bombay Bicycle Club“ für all jene, die lieber statt zu postkolonialer Gediegenheit oder zu indifizierten Beatles zu Indie (ohne N) am Ende tanzen wollen, während sie die Suppe kochen: „Always like this“.
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