
In irgendeinem verflixt verregneten Spätsommer vor Jahrzehnten, die Hortensien funkten SOS, die Malven sammelten Stöcker zum Bau einer Arche, hatte sich Wulnikowskis Nachbarin Gertrud entschieden Italienisch zu lernen. Fortan verschwand die dauergewellte Witwe von gegenüber einmal wöchentlich in den Bauch eines Volkshochschulgebäudes, wo sie Fälle lernte, Flexionen übte, zurück zuhause Vokabeln paukte – und sich immer wieder träumend in den Bildern im Lehrbuch verlor. Denn die Lektionen waren bebildert mit Aufnahmen aus allen Regionen Italiens. Bilder aus einem Land, in das sie es in all ihren 61 Jahren nie geschafft hatte. Ganz besonders verzückt hatte sie sich dabei mit ihren Blicken Foto der Borromäischen Inseln im Lago Maggiore verloren – dieser mit Palästen und märchenhaften Gärten betupften Felsnasen, die ihre Nüstern ein paar Meter aus den Fluten des Sees reckten. Idyllische Zwerge, verglichen mit den Gebirgsmassiven, die im Hintergrund des Bildes aufragten.
Eben dort steckte Gertrud einige Jahre später, am Tag, als ein Missverständnis fast in die Hose gegangen wäre und sie der Verzweiflung immer näher kam. Mit zwei Freundinnen hatte sie sich aufgemacht, den Lago Maggiore per Rad zu umrunden, allerdings auch einen Abstecher per Bahn nach Domodossola im Piemont gemacht, ein Kleinstadtidyll in einem Seitental, in dessen historischem Zentrum aus Felsen gemauerte Türmchen windschief aneinanderlehnten. Noch so ein Foto, das auch im Lehrbuch zu finden war. Dort hatte das Trio ein kleines Tomatenbrot gegessen, war dann aufgebrochen, um abwärts durchs Val d’Ossola am sich schlängelnden Flüsschen Toce entlang zurück in Richtung See zu fahren. Doch schon bald hatte Wulnis Mutter gespürt, wie gern sie noch einmal an einem Gasthof halten und sich erleichtern würde. Doch kein einziger kam in Sicht, der auch geöffnet hatte.
Nun, schon eine Dreiviertelstunde im Sattel, war es kaum mehr auszuhalten, und an einem kleinen Waldstück hielt sie an. Doch o nein! Just am Eingang zum Wald an diesem verlassenen Feldweg stand ein Schild, vom Rost angeknabbert, auf dem „Divieto di caccia“ geschrieben stand. Divieto, das wusste Wulnikowskis Nachbarin, heißt auf Deutsch verboten. Doch Caccia? Allzu riesig waren ihre Vokabelkenntnisse noch nicht. Könnte das etwa… ausgerechnet hier? Sollte genau jetzt und an dieser Stelle kacken verboten sein? Wo es fast nicht mehr auszuhalten war? Das Wörterbuch hatte sie leider im Hotel an den Ufern des Sees vergessen. Und so erfuhr Gertrud erst Stunden später, dass caccia auf Deutsch Jagd heißt und dass divieto di caccia nichts anderes ist als ein Jagdverbot – und dass sie sich gar nicht so leidend hätte zusammenreißen müssen. Denn als rücksichtsvoller Gast hatte sie trotz eigener Krämpfe nun doch selbstredend darauf verzichtet, sich an eine potenziell verbotene Stelle zu hocken. Erst vielleicht fünf Kilometer kamen sie an ein aus Felsbrocken gemauertes Gehöft, wo Gertrud klingelte. Ein Greis, dessen Stirn so zerklüftet war wie die Bergwelt umher, öffnete.
Radebrechend, gestikulierend erklärte Gertrud, wie dringend sie gern mal das Badezimmer dieses Herrn besuchen und von innen sehen würde, dem sie nie zuvor begegnet war. Ein Lächeln lugte aus seinem zottig-silbernen Bart hervor, er nickte, bat Gertrud und seine Freundinnen herein. Und während die Arme in Windeseile verschwand, lud der allein lebende Greis die anderen in seine Küche. Darin knisterte Feuer in einem uralten Stangenofen, aus dessen Bauch der Alte offenbar gerade einen rußgeschwärzten Bräter gezogen hatte. Selten hatte ein Duft Gertrud mit seinem Liebreiz so in den Bann geschlagen wie in diesem Moment, als sie erleichtert hinzustieß. Sie erkannte geröstete Fenchelknollen, die ihre zärtlichen Lakritznoten verströmten, daneben badeten mit Sauerrahm bekleckste, kross gebratene und kräftig gepfefferte Hähnchenbrüste in einer Sauce, aus der Kartoffel- und Möhrenschnitze ihre Nasen reckten wie die Borromäischen Inseln aus dem Lago Maggiore – verbunden durch glitschige Brücken aus geschmorten, karamellisierten Frühlingszwiebeln und überstreuselt von frischer Petersilie.

Gertruds Augen glänzten beim Anblick. Und der Greis, der das sah, bedeutete dem Damentrio, sich doch zu setzen. Wulnikowskis Nachbarin und ihre Freundinnen wiegelten ab, fuchtelten mit den Händen. „Ma no grazie“ brachte eine von ihnen hervor. Doch der Greis schien darauf zu bestehen. Und schöpfte jeder von ihnen etwas aus dem Bräter auf einen Teller – und kringelige Nudeln, die er eigentlich nur für sich dazu gekocht hatte. Und Gertrud probierte vorsichtig – ehe sie fast vom Glauben abfiel und sich endgültig in einem absurden Traum wähnte. Denn wie konnte etwas so Schlichtes so dermaßen köstlich, fast himmlisch schmecken? So würzig, so pfeffrig scharf und doch so ausgewogen? So süß und doch so herzhaft? Und das auch noch, wo sie Lakritz doch verabscheute? Etwa fünf Minuten lang saß sie still da und genoss, während ihr Hirn verzweifelt versuchte sich zu erinnern, was doch „köstlich“ hieß. Dann, mit etwas zittriger Stimme, brachte sie ein „molto delizioso“ hervor, und der Greis sah auf und lächelte beinahe zahnlos. Und Wochen später, zurück daheim, versuchte sie nachzuempfinden, was sie dort, in den zerklüfteten Bergen im Nordzipfel Italiens, gegessen hatte. Und dieses Gericht, Piemonteser Hähnchen, sollte auf ewig eins ihrer liebsten und besondersten bleiben – und auch Wulnikowski blieb eines Tages die Spucke weg, als Gertrud von gegenüber ihn zum Essen einlud und genau das auftischte. Und keiner von beiden hätte dieses hinreißende Gericht je kennengelernt, wenn sich da vor Jahrzehnten nicht am Waldesrand zeitgleich ein Jagdverbots-Schild und eine Vokabellücke aufgetan hätten. In all den vielen italienischen Kochbüchern, die Gertrud durch ihre Volkshochschulkurse gekauft hatte, hatte sie es jedenfalls nie entdeckt.
*Das Rezept ist in Wirklichkeit eines der wundervollsten Rezepte meiner Mutter, während die gerade erzählte Geschichte frei erfunden ist. Ich wüsste nicht, dass sie je im Piemont war. Und ich habe keine Ahnung, woher sie dieses Rezept hat – sie selbst kann sich nicht erinnern. Aber das Gericht ist köstlich (und sie hat auch das von mit Fotografierte gekocht).

Zutaten für die Piemonteser Hähnchen
800 Gramm Hähnchenbrüste (nehmt gute in Bio-Qualität, am besten Maishähnchen)
2 Esslöffel Mehl zum Bestäuben
5 Esslöffel Butter
2 Bund Frühlingszwiebeln
2 Knollen Fenchel
200 Gramm Möhren, geschält und gewürfelt
300 Gramm kleine Kartoffeln (etwa Drillinge)
2 Esslöffel Zucker zum Karamellisieren
250 Milliliter Hühnerbrühe
1 Becher Crème Fraîche
1 Tasse frisch gehackte Kräuter (etwa Petersilie, vielleicht auch Estragon, etwas Thymian, Zitronenverbene)
Salz
Pfeffer
Dazu: eventuell Pasta, Reis oder frisch gebackenes Brot.


So werden die Piemonteser Hähnchen zubereitet
Die Hähnchenbrüste am besten schon am Abend vor dem Zubereiten ordentlich salzen und im Kühlschrank ziehen lassen. Das zerlegt die Muskel-Eiweiße, lässt das Fleisch die Sauce besser aufnehmen und sorgt für deutlich saftigeres Fleisch.
Butter in einem Bräter auslassen auf hoher Stufe – aber nicht so hoch, dass der Rauchpunkt erreicht wird, wir wollen keine Bitter-Aromen. Die Hähnchenbrüste rundum bemehlen und dann von allen Seiten anbraten, bis sich auf allen Seiten eine knusprige (keine schwarze!) Kruste gebildet hat. Das Fleisch rausnehmen und in einer Schüssel beiseitestellen. Einige Runden mit der Pfeffermühle darüber drehen (nicht zimperlich sein, hier!).
Die Hitze am Herd auf niedrige bis mittlere Stufe runterschalten.
Die Drillinge eventuell noch verkleinern, dickschaligere Kartoffeln sonst schälen und würfeln. Das Gewurzel von Fenchenknollen absäbeln, die Knollen halbieren und dann zerzupfen. Von den Frühlingszwiebeln, falls sie schon ein paar Tage liegen, die trockenen Außenhäute abstreifen und den Wurzelansatz fortschneiden. Die Möhren schälen und in mundgerechnte Würfel schneiden. Die frischen Kräuter waschen, hacken und in einer Schüssel beiseite stellen.
Den Zucker in der Mischung aus Bratensaft und Butter geben und das Gemüse darin anbraten., während der Zucker karamellisiert. Regelmäßig rühren.
Wenn der Zucker sich in Karamell verwandelt hat und das Gemüse benetzt (auch hier aufpassen, dass es nicht zu dunkel wird), einen Viertelliter warme Hühnerbrühe angießen. Mit einem Spatel dabei auch das womöglich zart Angepappte vom Pfannenboden lösen, auf dass es sich mit der Sauce vermischt. Darin stecken viele köstliche Röstaromen. Das Ganze nochmals mit Salz und Pfeffer abschmecken, falls nötig, und in eine Auflaufform verfrachten, das kurz angebratene Fleisch hinzulegen.
Mit einem Löffel Sauce vom Grund der Form über das Fleisch löffeln – und die gesamte Chose nun noch einmal für eine halbe Stunde in den auf 200 Grad erhitzten Backofen geben. Nach 20 Minuten den Deckel des Bräters eventuell aufsetzen (je nachdem, wie kross Ihr es gern hättet).
Derweil Pasta oder Reis nach Packungsanleitung in Salzwasser garen und/oder in den letzten Minuten vor der finalen Klappenöffnung nochmal frisches Brot im Ofen mit aufknuspern.
Aus dem Ofen nehmen, ein paar Minuten abkühlen lassen, damit sich auch die Säfte im Fleisch setzen. Dann die Hähnchenbrüste mit Crème Fraîche beklecksen und das Ganze mit den frischen Kräutern bestreuen. Mit Pasta, Reis oder Brot servieren. Buon appetito!





Musik zum Menü
Der Mannheimer Singer/Songwriter Yannick Niedworok alias Manuel Ría hat über Domodossola, dieses herrliche zwischen Bergen verborgene Kleinod, einen mitreißenden Song geschrieben – und wo die Stadt hier doch auch auftaucht, darf es auch das Lied.
Ein wenig italienisch bleibt es, auch wenn die Interpreten eigentlich fernab vom Piemont oder überhaupt jenseits des Appenin aufgewachsen sind: Die Crucchi Gang, hier mit Francesco Wilking von Die letzte Eisenbahn, hat eine cowboyidyllische, flötenbereicherte Fassung des Bilderbuch-Hits „Bungalow“ auf Italienisch eingespielt. Mit einem wundersam entspannenden Video, bei dem Limetten sich wie Lemminge in ein Schwimmbecken stürzen. Wer weiß, wie sehr ich Limetten liebe, mag vielleicht auch diesen Song.
Und dann ist da noch diese Pop-Punk-Band aus London, die heißt wie ein Düsseldorfer Stadtteil, die keinerlei Bezug zu Hähnchen, Fenchel oder dem Lago Maggiore zu haben scheint, aber unglaublich gute, freudestrahlende Musik macht: Bilk. Fröhlicher haben „Bad news“ nie geklungen. Und wenn Musik gut ist, darf sie auch das Thema verfehlen.
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Buonissimo und eine herrliche Geschichte dazu! DAnke, Ole!
Ich werfe noch Ligabue in den musikalischen Ring, der mich durch meine Zeit in Italien intensiv begleitet hat.
Liebe Grüße
Carina
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Ligabue muss ich mir mal anhören! Verdena und Giardini di Mirò sind auch fantastisch. Aber die waren hier an anderer Stelle schon im Rennen 🙂
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Und ganz lieben Dank Dir! Grazie mille, anche a te!
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Das Rezept liest sich schon „köstlich“ – wie muss das Gericht erst schmecken … mmmhhh! Aber die Geschichte dazu ist mindestens genau so köstlich!!! , vielen Dank für Beides. Schöne Grüße aus Norden, Margot
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Das freut mich riesig! Ganz lieben Dank! Große Grüße aus Leer!
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Klasse, die Geschichte. Hab doch glatt im Rezept zuerst „gekackte Kräuter“ gelesen 😅
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Das ist mit Blick auf die Geschichte nur naheliegend! 😃
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Ganz lieben Dank Dir
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Zur Musik wippend muss ich wieder mal sagen: sehr olemäßig toll mal wieder 🤩 Kartoffeln und Nudeln zusammen mag ich tendenziell zwar nicht, aber da das Gericht insgesamt hypertoll klingt, werd ich es probieren. Danke dir für den Spaß, der auf dieser Seite immer auf die Leser wartet. 👍
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Hallo lieber Ole,
Deine Geschichte und das Gericht sind köstlich. Ich sehe Gertrud bildlich vor mir!
Jetzt kommt das aber…. aber es ist kein typisch italienisches Gericht, sondern das hat jemand erfunden, nach einem Italienaufenthalt, um den Geschmack Italiens nachzuahmen. (im Netz gibts einige Varianten davon)
Ich stamme aus dem Piemont und habe noch nie so ein Gericht, auf diese Weise gekocht erhalten oder gesehen. Teigwaren werden in Italien NIE zum Fleisch gemischt, denn Pasta ist eine Vorspeise, erst danach gibts Fleisch und Gemüse. Auch Sahne wird sehr spärlich benützt, aber vor allem keine Saure Sahne. Nichts desto trotz ist dies sicherlich ein wunderbares Gericht, es hat halt einfach einen irreführenden Namen.
Lieben Gruss und buon appetito!
Wilma
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Danke für die erhellenden Anmerkungen!
Ich kenne die Genese des Rezepts tatsächlich nicht. Mir lag auch fern, Authentizität vorzugaukeln, die das Ganze gar nicht hat. Auch den Anspruch hatte ich nicht, gerade, weil ich die Ursprünge nicht kenne und hier eher vergnügt herumgesponnen habe.
Ebensowenig soll hier kulturelle Aneignung Thema sein. Die Geschichte ist nur erfundener Unfug. So sehr sie im Zweifel spätestens bei der sauren Sahne hinkt, wenngleich die – unauthentisch – famos passt.
Meine Ma hat, um mehr hungrige Mäuler stopfen zu können, zusätzlich Pasta gekocht, und weil ich zu Gast sein durfte, hab ich es einfach geknipst wie genossen.
Deine Einwände kann ich aber in jeder Form verstehen, und ich würde mutmaßlich auch erklärend eingreifen, wenn ein Schwabe zum Beispiel behauptete, man esse Rostbratwurst zum Grünkohl in Ostfriesland. Was im Zweifel auch schmecken mag, aber fern von echt ist.
So oder so und wie immer man das Gericht nennen mag, egal, wo die Wurzeln liegen und wie faktisch daneben die erfundene Geschichte im Zweifel sein mag, liebe ich das Gericht sehr und ist es rein geschmacklich hinreißend.
Ganz liebe Grüße
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Das habe ich auch genau so wie du sagst verstanden, es werden ja viele Gerichte mit Namen bezeichnet, die nicht ganz zutreffen und man sich wundert, woher es kommt. Hauptsache es schmeckt und das bezweifle ich bei den Bildern deines Gerichtes auch gar nicht.
Lieben Gruss
Wilma
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Es ist wirklich über alle Maßen lecker. Und das ist, was am Ende ja zählt, finde ich 🙂
Ganz liebe Grüße!
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moin Ole, danke schön fürs Mitnehmen an den schönen Lago Maggiore. Hab gerade absolutes Kopfkino und ich rieche förmlich das köstliche Hähnchen.
Lecker, lecker, Fenchel ist da schon ein wunderbarer Begleiter zum Pollo.
Grüße von Karin
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Probier’s gern mal aus. Das Rezept ist trotz seiner Schlichtheit wirklich grandios schmackhaft und raffiniert, finde ich!
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