
Tom Kha Gai gehört zu den leckersten, raffiniertesten Suppen auf der Welt. Das hier ist ein einfaches, kö liches Rezept.
„Wo bist Du gewesen? Warum bist Du so kalt?
Möchtest Du nicht reden? Welche Farbe hat Dein Frosch im Hals?“
(Enno Bunger, Regen)
Es ist 1996, seine Freundin ist weg und bräunt sich in der Südsee, als Wulnikowski einfach verschwindet. Kein Wort zu irgendwem. Sachen gepackt, nächstbesten Flug gebucht, Liebeskummer-Kurzschluss, Ihr kennt sowas. Auch jetzt, Jahre später, kein Wort zu irgendwem, dass er wieder da war.
Doch plötzlich, vorsichtig, als handele es sich um etwas Kostbares, Zerbrechliches, drückte Wulnikowski die Klinke von Rudis Haustür, wie er es immer getan hatte. Er trat ohne zu klingeln in den Flur, auch das hatte er immer so gemacht – nur dass er es etwa fünf Jahre lang nicht getan hatte. Hatte in einer Lebenskrise einfach seine Sachen gepackt und war weggeflogen. Liebeskummer, Ihr kennt das. Darüber gesprochen hatte er mit keinem. Auch jetzt, von seiner Rückkehr nicht. Sein schwarzer Wollmantel tropfte. Auf der linken Schulter hatte sich eine Taube in Weiß-Grau verewigt. Draußen krachten Sintfluten nieder und duschten die blühenden Bäume. „Wulni? Du? Hä?“, fragte Rudi. „Was machst Du denn… Du hier? Und wo warst Du all die Jahre?“
Wulnikowski überging die Fragen, er sagte einfach: „Ich hab‘ Bier mitgebracht. Und: Hör‘! Wenn man die Augen zumacht, klingt der Regen wie Applaus.“ Von draußen prasselten wilde Wirbel gegen die Scheibe. Wassertropfen tanzten und rutschten dann in Rinnsalen wie flüssige Lemminge dem unteren Fensterrand entgegen. Klatschnasse Schlittenfahrt quasi. Autos und Sattelschlepper teilten das Meer auf der Straße. Eisige Böen bissen am Kragen vorbei in den Nacken. Menschen rannten unter Regenschirmen über Bürgersteige. Und dann sagte er ansatzlos, einfach so: „Ich finde: An Tagen wie heute braucht man den Trost einer heißen Suppe, einer Suppe, die scharf ist und belebt, und die zugleich sanft und mild ist, als ob sie Dir liebevoll regennasse Strähnen aus der Stirn streicht.“
„Wulni, für Jahre bist Du wie vom Erdboden verschluckt. Verschwunden. Von Jetzt auf Gleich. Und nun schlurfst Du hier rein und erzählst in keinem Wort, wo Du gesteckt hast, aber das heute irgendein Suppentag ist?“
„Äh… ja.“
„Hast Du getrunken?“
„Noch nicht. Das Bier ist im Rucksack.“
„Du hast echt Nerven! Wo zur Hölle warst Du? Wir sind fast durchgedreht vor Sorge um Dich! Ich dachte, Du wärst tot!“
Rudi brach in Tränen aus, hob den Arm, schluchzte: „Ich müsste Dir jetzt eigentlich eine scheuern, Dich windelweich prügeln! Was zur Hölle, Wulni? Was zur Hölle?“
Wulnikowski zuckte verlegen die Schultern. „Wenn ich hiergeblieben wäre, gäbe es mich nicht mehr. Musste raus. War ein bisschen wie zum Zigaretten holen gehen und nicht wiederkommen. Mich von Euch zu verabschieden, hätte mir das Herz zusätzlich in Stücke gerissen.“
„Und wo warst Du?“
„Thailand.“
„Thailand?“
„Thailand.“

„Und vorher Vietnam, Kambodscha, Laos, Indien, Costa Rica, Oer-Erkenschwick…“
„Oer-Erkenschwick?“
„Oer-Erkenschwick.“
„Was zur Höl….“
„Frag einfach nicht.“
Wulnikowski war Rudis bester Freund gewesen. Sie hatten die Tage oft an der Hafenkante verbracht, Beine baumelnd, Stellenanzeigen mit optimistisch rotem Filzstift eingekreist, Pläne geschmiedet, vom Verreisen geträumt und sich ausgemalt, wie es wäre, nach London zu ziehen oder ein Café zu eröffnen, das sich um Meerschweinchen drehte. Und jeder Plan hatte endgültig geklungen bis zum nächsten Morgen. Woche für Woche. Als sie eines Nachts im Südpark den buttermilchfarbenen Halbmond wie einen abgeklipsten Fingernagel bestaunt hatten, sagte er aus dem Nichts, „sogar in einer zerbeulten Coladose steckt Poesie“.
Doch eines Tages verschwand nur Wulnikowski plötzlich. Wortlos. Aus der Stadt, aus dem Leben seiner Freunde. Es war das Ende der Welt, wie sie sie gekannt hatten. Er hatte seinen Reiserucksack gepackt, ein halbes Toastbrot aus seinem Küchenschrank für die Tauben als Futter aufs Vordach gekrümelt und war gegangen. Ohne Erklärungen, ohne erklärtes Ziel.
Die Jahre hatten die Erinnerungen ausgeblichen, verwaschen, Momente fortgespült. Umso bizarrer war es, dass da dieser klatschnasse Kerl mit Taubendreck auf der Mantelklappe und Bier im Rucksack nun einfach in der Wohnung stand. Draußen lief ein mit Laub verstopfter Gulli über. „Ich musste raus. Es war Zeit“, sagte er, „und so bin ich gegangen. Aber jetzt bin ich zurück.“
„Wie schön. Und jetzt?“
„Ich habe überlegt: Ich eröffne eine Suppenküche und spende Trost.“
„Eine Suppenküche?“
„Ja.“
„Und wie willst Du Trost spenden?“
„Mit Suppe.“
„Wie… mit Suppe?“
„Mit Suppe! Fast nichts ist so tröstlich wie Suppe. Und die tröstlichste aller Suppen ist Tom Kha Gai. Deshalb wird es auch nur die geben.“
„Ach. Und Du hast wirklich nicht getrunken?“
„Wieso fragst Du dauernd?“
Stille.
Wulnikowski zog zwei Bierdosen aus dem Rucksack, drückte Rudi eine in die Hand, beide zogen mit dem Zeigefinger die Laschen hoch. Doppelzisch. Prost.
„Lass mich das erklären. Ich habe damals einfach den nächstbesten Flug nach Thailand gebucht, einfach nur raus! Ohne Plan. Und dann stand ich im völligen Chaos inmitten lärmender Menschenmassen in Bangkok ohne jeden Schimmer, was ich da überhaupt sollte, bin in Tränen ausgebrochen stehen geblieben vorm Eingang, als mich plötzlich Nathapong ansprach. Tuktukfahrer. Wartete auf Fahrgäste. ,What’s wrong? You no know where to go?‘, hat er gefragt mit seiner Stimme, die dünn war wie zu kurz gezogener Tee. Ich habe ihm meine Geschichte erzählt. Er hat nur „come“ gesagt. Dann hat er mich zu sich nach Hause gebracht. Hat mir Kekse angeboten und seine Mutter angerufen. Die lebte in einem kleinen Haus bei Ranong im Süden, Palmenbucht. Und hatte noch ein Zimmer frei. Dann sagte Nathapong: „You go train station. Go Ranong. You go live in my mother’s house. She room for you. Is beautiful.“
Das habe ich tatsächlich getan. Einen Tag lang bin ich im Zug gefahren bis nach Ranong. Und sie hat mich empfangen wie einen verlorenen Freund, in den Arm genommen und mir diese Suppe gekocht, und ich habe zum ersten Mal in meinem Leben Trost löffeln können.“
„Dann lass mich Dich jetzt auch in den Arm nehmen, verlorener Freund“, sagte Rudi. Und sagte: „Das Rezept: Hast Du das?“
„Klar.“
Er zog eine Kladde aus seinem Rucksack, blätterte und fand sie Seite. Darauf stand:
Tom Kha Gai
Für 4 Personen:
1,5 Liter Hühnerbrühe oder Hühnerfond
500 Gramm Hühnerbrust
2 Dosen dickflüssige Kokosmilch (keine Halbfettkollegen)
1,5 Esslöffel brauner Zucker oder Palmzucker
4 Stängel Zitronengras, die trockenen Schichten abgefriemelt, das trocken-harte Grün abgetrennt und beiseitegelassen, den Rest in ganz feine Scheibchen geschnitten
5 Bananenschalotten oder fünf kleine rote Zwiebeln, geschält und fein gewürfelt
1-2 TL Koriandersamen
3 rote Chilis, halbiert und in feine Ringe geschnitten. Wer es scharf mag, wagt es, die Kerne drinzulassen, alle anderen schrubben sie lieber raus und beiseite.
4 cm Galgantwurzel (gibt es in Deutschland tiefgefroren im Asialaden) oder frischen Ingwer (Galgant schmeckt feiner, aber Ingwer ist deutlich einfacher zu kriegen), geschält, in 1cm dicke Scheiben geschnitten und dann in einer Pfanne ohne Fett heiß von beiden Seiten geröstet, bis die Haut bräunt. So karamellisiert der Zucker darin, und der Geschmack wird milder. Dann mit einem Sparschäler die gebräunte Haut abschneiden und den Rest in feine Würfel oder Scheibchen schneiden.
400 Gramm frische Pilze (bevorzugt Pfifferlinge oder Austernpilze, aber Champignons sind auch gut), geputzt, angetrocknete Stielkappen abgeschnitten, halbiert oder in Scheiben geschnitten
6-8 EL Fischsauce
8 Kaffir-Limetten-Blätter
2 Bio-Limetten
1 Bund frischer Koriander
Meersalz
„Die Zutatenliste ist ja länger als Deine Abwesenheit“, sagte Rudi. Beide lachten. „Wenn das Fleisch besonders zart und saftig sein soll, dann reibe es schon einen Tag vor dem Kochen mit Salz ein und lasse es einfach über Nacht stehen“, sagte Wulnikowski.
„Verliert das dann nicht unnötig viel Wasser und wird zäh?“, fragte Rudi.
„Das Salz zerlegt das Muskeleiweiß im Fleisch, macht es zarter und sorgt dafür, dass die Eiweiße im Fleisch beim Erhitzen nicht alle Flüssigkeit rausdrücken, sondern sogar welche aufnehmen.“
„Das ist ja was.“
„Und wenn Du die Suppe lieber vegetarisch kochen möchtest, ersetze das Hühnerfleisch einfach durch weitere Pilze.“
„Wie kocht man die Tom Kha Gai denn?“
„Du schneidest das Fleisch, wenn Du es verwendest, in etwa einen Zentimeter breite Streifen. Dann nimm einen Topf, der mindestens vier Liter fasst und bring darin die Brühe und die Kokosmilch zum Kochen. Falls Du hast, schnapp Dir einen Mörser, gib die Schalottenwürfel, Zitronengrasfitzelchen, den Großteil der Chilis und die Koriandersamenkörnchen hinein und zerquetsch sie mit kräftigem Reiben und Drücken im Kreis. Das allein kann schon helfen, Frust loszuwerden. Wenn Du das eine kleine Weile gemacht hast. wird daraus eine Paste. Die kannst Du dann gemeinsam mit den Kaffir-Limetten-Blättern und dem Galgant oder Ingwer zum Gebrodel dazugeben. Lass es ein paar Minuten weitersprudeln, dann senk die Hitze und gib das Hähnchenfleisch und/oder die Pilze dazu.
Würze das Ganze mit der Fischsauce (ab dem fünften Löffel sorgsam rühren und nachschmecken, ob es passt, die Saucen sind unterschiedlich salzig und intensiv) und mit dem Zucker, presse die Limetten hinein (falls Du keine Presse zur Hand hast, halbier‘ sie und drück die Hälften von innen mit dem Daumen aus – und wenn Du etwas mehr Zitrusfrische magst, raspel‘ vorher die Schale von zumindest einer Limette mir einer Reibe oder einem Zestenreißer dazu). Lass das Ganze etwas köcheln, vielleicht eine Viertelstunde, zumindest aber, bis das Hähnchen undoder die Pilze durchgegart sind. Dann schmeck noch einmal ab und prüfe, ob alles passt. Wenn ja, schnapp Dir eine Suppenschüssel und befüll sie, gib die restlichen Chilischnitze und die grob gehackten Korianderblätter dazu und lass Dich trösten.“
„Woran erkenn ich denn, ob alles passt?“ „Die Fischsauce schafft weit mehr als nur Salzigkeit, sie schafft Tiefe, insbesondere mit den Pilzen. Die geben selbst auch ihren Teil zur Vollmundigkeit dazu, und zusammen mit der zitrusfrischen Limettensäure, der Zuckersüße, dem karamellisierten Galgant oder Ingwer und der belebenden Schärfe der Chilis und der friedliebenden Milde der Kokosmilch verbinden sich die Aromen plötzlich zu einem verzaubernden Paradox, sind gleichzeitig scharf und mild, salzig, sauer und süß. Das macht sie zur Suppe, Suppe, die scharf ist und belebt, und die zugleich sanft und mild ist, als ob sie Dir liebevoll regennasse Strähnen aus der Stirn streicht. Und irgendwie geht so von ihr diese Art tröstender Magie aus, als ob plötzlich in Dir die Sonne strahlt und Dich wärmt von dort, aus den Tropen, wo her sie kommt. Wobei man sie selbstredend immer essen kann, nicht nur, wenn die Welt untergeht und Wolken brechen.“
Musik zur Tom Kha Gai
Natürlich schmeckt das Gericht nach Palmenstränden, an denen man mit feinen Sandkörnern zwischen den Zehen in Sonnenuntergänge eintauchen kann. Aber wenn man die Augen zumacht, klingt der Regen wie Applaus. Einer der ganz großen Songs von Enno Bunger.
„Es ist 1996, meine Freundin ist weg und bräunt sich in der Südsee…“ Der Auslöser des Wulnikowski-Verschwindens könnte einen dazu verleiten, fettes Brot in die Tom Kha Gai zu tunken. Oder? „Jein!“
Und dann war die Welt zuhause plötzlich nicht mehr, wie Wulnikowskis Freunde sie kannten. Wie im Song von R.E.M., nur trauriger, wie in Zeitlupe – so wie in Chris Carrabas Variante mit Dashboard Confessional.
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Bananenschalotten und Galgant, dazu diese Geschichte… Und die genialen Bilder von dir mit der KI. Bin sofort zurück gebeamt nach Koh Lanta und das ist lange her…
Ab und zu mal abtauchen, das ist melancholisch und wundervoll. Wie deine Geschichte von Wulnikowski. ❤️
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Wieder Wulnikowski…wie immer gut zu lesen…allerdings hast du in den Text einen kleinen Fehler…du wiederholst den Anfang (Wulnis heimlicher Abschied) in zwei verschiedenen Versionen. Ich gehe mal davon aus, dass hast du gemacht, um zu schauen, ob deine Leser den Text auch wirklich lesen!? 😉
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Moin Ole!
Die Suppe funktioniert! Auch in Gö und mit und ohne Streptokokken für Menschen zwischen 4 und 45… Zwar war die eine Stange Zitronengras im Kühlschrank leider abhängig, Fischsosse war aus und den frischen Koriander hab ich erst zum Aufwärmen abends wiedergefunden… aber machte nix! Alle mochten noch was nach.
Vielen Dank für deine Geschichten und Rezepte und ganz liebe Grüße,
Mme Pasteur
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