
Was Fesseln sprengt und uns verführt, atemberaubt glücksglucksen lässt, was aufregend anders die Sinne berührt, bis sie knistern und uns übergehen vor Begeisterung, wenn die innere Glut birst und Wonne wallt, lässt uns gern mit Schweißperlen auf der Stirn zurück. Und wenn wir voller Hingabe verführt den vorab zum Scheitern verurteilten Versuch unternehmen, solche ekstatischen Erlebnisse in Worte zu fassen, hauchen wir vielleicht „wild“ und „verwegen“, „durchtrieben“ und „heiß“ und „scharf“ – und „gnadenlos gut“. Wenn das Herz rast, die Synapsen außer Atem Purzelbäume schlagen, Sicherungen durchbrennen und die Sinne ihre Tore sperrangelweit aufreißen, um so viel wie nur möglich hereinzulassen, aufzusaugen, zu verschlingen von dem, was auf so spannende Weise, so umwerfend eindringt. So wie uns auch für Anderes die Worte im Deutschen fehlen.
Wofür wir im Deutschen keine Einzelwörter haben
Die Georgier können mit „shemomedjama“ in einem einzigen Wort ausdrücken, dass man versehentlich alles auffuttert, obwohl man schon satt ist – weil es so lecker ist. Während die Finnen mit „kalsarikännit“ ein Wort dafür haben, sich zu Hause allein halbnackt in Unterhose zu betrinken ohne die Absicht, das Haus noch zu verlassen. Im Türkischen braucht es mit „yakamoz“ nur ein Wort für die Schönheit des Mondlichtes, das sich nachts gleißend im Wasser spiegelt. Im Japanischen bezeichnet „komorebi“ Lichtstrahlen, die zwischen den Blättern von Baumkronen hindurchscheinen wie jetzt im frühen Herbst.

Und im Englischen gibt es wiederum ein Wort für die Versuche, streikende elektrische Geräte wieder in Gang zu kriegen, in dem man irgendwo draufhaut oder dagegentritt: „percussive maintenance“.
Nun, oft sind es besondere Erlebnisse, die uns so atem- und sprachberaubt zurücklassen, und von den wenigsten erzählen wir öffentlich. Weil wir solche Erlebnisse gern bei uns behalten, in der inneren Schatztruhe. Manchmal aber ist das anders, dann mag man auch der Welt gegenüber schwärmen, vielleicht noch immer etwas außer Atem und mit einem frischen Taschentuch die Schweißperlen wegwischend, die auf der Stirn glitzern. Zum Beispiel dann, wenn man von der scharfen Berbere-Ratatouille erzählt, die der große Yotam Ottolenghi für sein in meinen Augen aufregendstes Werk „Flavour“ gemeinsam mit Ixta Belfrage ersonnen hat (unbeauftragte, unbezahlte Werbung aus Begeisterung). Das ist „wild“ und „verwegen“, „durchtrieben“ und „heiß“ und „scharf“ – und „gnadenlos gut“. Ich gestehe: Zuvor sind mir beim Gedanken an klassische Ratatouille eher die Füße eingeschlafen. Vielleicht, weil ich selten gute gegessen habe. Und auch hier, hallo shemomedjama“, versucht bin, weit über jeden Sättigungsgrad alles aufzufuttern.
Klassische Ratatouille auf Weltreise
Klassische Ratatouille, die provençalische Gemüsepfanne aus Zucchini, Aubergine, Tomaten, Paprika, Thymian, Rosmarin, Oregano, in einer Brühe gegart, bringt fraglos das Zeug mit zu Vollmundigkeit und samtenem Umami mit, kann mit feiner Klinge verzaubern, ist für mich dennoch allzu oft eher blass gewesen. Berechenbar, brav, vielleicht sogar ein wenig bieder und in ihrer eher schlanken und mitunter faden Würze mitunter auch eher so spannend wie meine Vorstellung vom Arbeitsleben eines Sachbearbeiters im Straßenverkehrsamt.

Eine aufregend schöne kosmopolitische Aromenbalz
Hier hingegen tauchen dreiste unerwartete Aromen auf, schmiegen sich wie auf einer dicht gedrängten Tanzfläche von hinten an und lassen in knisternder Balz die Herzen der anderen Anwesenden aufgeregt höher schlagen. Ingwer mit seiner bitzigen Schärfe etwa, Sojasauce und Ahornsirup mit ihrer burschikosen Vollmundigkeit und zarten Süße (auch wenn ich statt beider Coco Aminos genommen habe, was weniger plump daherkommt und Umami und Süße vereint). Dazu Schwarzkümmel mit seinem knackigen Biss für orientalische Aromenraffinesse und in meinem Fall, unabgesprochen, auch noch Berberitzen, die mit ihrem rosinigen Biss und ihrer feinen Säure gemeinsam mit der kecken Frische von Limettensaft die süßliche Vollmundigkeit kontern. Zumal Berbere und die Berberitzen schon sprachlich wie füreinander gemacht sind. Vor allem aber, und das schürt das Feuer der Leidenschaft, putzen hier Chilis den Rachen, triggern die Geschmacksnerven mit süßscharfem Schmerz und wecken die Schweißperlen auf der Stirn.
Veganes Aromenwunder
Das Ganze wird noch verschärft und gewinnt noch schillerndere Konturen durch die rund um Äthiopien heimische Berbere-Gewürzmischung, in der Pfeffer, Ingwer, Piment und Cayennepfeffer zusätzlich zündeln, während Nelken, Muskatnuss, Kreuzkümmel und Kardamom dem Ganzen vielschichtiges Schillern verleihen, ein wenig wie Curry-Mischungen, und doch ganz eigen. All das schmort in der Gluthitze des Backofens, schwitzt unnötiges Wasser aus, konzentriert sich auf die reine Essenz verführerischer Aromen. Und dann gibt es noch die vielschichtig konternde Kühle einer Gurken-Kokos-Salsa, in der sich aromatisch unpolitische Gurken mit fernöstlichen Noten von Kokoscreme und Koriander verbinden und ein wenig wie eine indische Raita im Schulterschluss die feurig entbrannte Ratatouille vom Baum holen.
Und so ist das Ganze ein wenig wie eine vorher schöne, liebliche Landpomeranze aus südlichen Gefilden, die einem eher langweiligen Job nachging und plötzlich sich entschied, Sabbatmonate zu nehmen und die Welt zu bereisen, den nahen Osten und Südostasien vor allem, auch mit einem Abstecher auf den afrikanischen Kontinent, und die selbst die aufregend schönen Eindrücke der Welt aufgesogen hat, sich mit Wildfremden eingelassen und sie kennen und lieben gelernt hat und völlig verändert zurückkehrt. Noch wiedererkennbar, aber wilder, selbstbewusster, erfüllt von besonderen sinnlichen Erlebnissen. Eine, die voller Hingabe Geheimnisse erforscht, seufzend Vollkommenheit und Urkraft erlebt und aufregend Neues erkundet hat – mit völlig neuer weltgewandter, zart kosmopolitischer Ausstrahlung. Die Fesseln der Zurückhaltung? Gesprengt. Gischtschäumend und glutberstend an den Geschmacksknospen: genau das Richtige, jetzt, wo die nasskühle Herbstfrische eingesetzt hat, aber noch so viele vollreife Tomaten, Spitzpaprika, Auberginen und Zucchini frisch aus den Tunneln der Region geerntet werden – wie der Solawi in Potshausen, von der mein Gemüse kommt.
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Weil das Ganze in sich kalorienhalber eher schlank ist, bei hohem Chili-Brennwert, empfehlt sich, frisch gebackenes Fladenbrot dazu zu reichen. Das Schöne: Die Ratatouille kann man auch schon ein, zwei Tage im Voraus machen, ehe man sie vielleicht verehrten, begehrten, beliebten Gästen serviert. Die Aromen gewinnen, wenn der Eintopf ein wenig durchzieht. Feuer frei für ein Gericht, von dem man so schnell nicht wieder lassen kann und möchte und das man fortan immer wieder will. Und das man – „shemomedjama“ ahoi – glutvoll verschlingt, auch wenn man schon satt ist. Das Praktische: Auch im Deutschen gibt es Einzelwörter, die erklären, wie man es zubereitet.

Sehr spannend, fast kurios übrigens, dass ich eben dies Rezept vor gut einer Woche gekocht habe, als die großartige Claudia Zaltenbach quasi dasselbe Rezept (nur ohne meine kleinen eigenen Twists) auch in ihrem Blog gepostet und bejubelt hat – ohne, dass wir voneinander wussten. Spricht aber für die Güte des Gerichts.
Das braucht man für die scharfe Ratatouille mit Berbere und Gurken-Kokos-Salsa
Für die Ratatouille
4 Auberginen, in Würfel geschnitten, in Summe vielleicht 1 kg
4 Spitzpaprikaschoten, entkernt, Samenfäden rausgeschnitten, kleingeschnitten
1 Zucchini, kleingeschnitten (etwa 500 g, Ottolenghi/Belfrage empfehlen hier zwei geschälte, zerkleinerte Kohlrabi, die ich nicht zur Hand hatte – und für mich passt Zucchini noch besser)
300g vollreife Tomaten, bevorzugt süße, kleine
200 ml Olivenöl
1 Handvoll Berberitzen oder Sumach
1 EL Ingwer, geschält und kleingehackt
3-4 Knoblauchzehen
3 milde oder mittelscharfe Chilischoten
3 EL Sojasauce und 2 1/2 EL Ahornsirup (oder 5 EL Coco Aminos, alternativ)
2-3 TL Schwarzkümmelsamen
Saft einer halben Limette
Salz
(ich habe auch noch einen Viertel Patisson-Blanc-Kürbis verarbeitet, weil er grad da war)
Für die Gurken-Kokos-Salsa
1 Salatgurke, geraspelt oder in der Küchenmaschine zerhackt
15 g Koriandergrün
2 EL Ingwer, geschält und feingehackt
200g dickflüssige Kokoscreme
Saft der anderen Limettenhälfte
1/2 TL Salz
Zum Servieren dazu passt frisches knuspriges Fladenbrot, aber auch Reis, als Sättigungsbeilage.

So bereitet man die scharfe Ratatouille mit Berbere und Gurken-Kokos-Salsa zu
1 Den Backofen auf große Hitze vorheizen (Ottolenghi empfiehlt 210 Grad Umluft, ich habe es bei 200 Grad Ober-/Unterhitze belassen). Voller Leidenschaft die Auberginen würfeln, die Spitzpaprika mit scharfen Schnitten entkernen, von Samenfäden befreien und zerkleinern. Die Zucchini raffiniert in Scheiben zerlegen (alternativ den geschälten Kohlrabi), den Ingwer gehackt legen, den Knoblauch pressen und beides hinzufügen und auch die Tomaten eventuell lustvoll kleinmachen. Das Ganze mit 200 ml Olivenöl und einem knappen Teelöffel Salz vermengen und – eventuell auf Backpapier auf zwei Bleche verteilt oder in einem ofenfesten Bräter – im glühend heißen Ofen etwa 40 Minuten lang schwitzen lassen und rösten.
2 Ottolenghi empfiehlt, die Chilis in einer stark erhitzten Pfanne ohne Fett zwölf Minuten lang bei mehrmaligem Wenden zu rösten, dann zu zerkleinern und je nach Schärfevorliebe zu entkernen. Wer das Scharfrauchige nicht so mag, kann die Chilis auch vorher zerkleinern und entkernen und mitbacken.
3 Das Ganze schlussendlich mit Ahornsirup und Sojasauce oder auch Coco Aminos als histaminarmer leckerer Alternative vermengen, die Berberitzen oder den Sumach sowie den Saft einer halben Limette unterheben. Mindestens eine halbe Stunde lang stehen lassen, damit die Aromen warm miteinander werden, sich aufeinander einlassen und sich glutvoll verbinden.

4 Für die Gurken-Kokos-Salsa die Gurke packen und kraftvoll feinraspeln oder pürieren und danach in einem Sieb oder Tuch ausdrücken, um die Wassermengen herauszupressen. Bei der Kokoscreme oder Kokosmilch eventuell abgesetzte Flüssigkeit abgießen (und auffangen, weil kann man ja trinken). Beides gemeinsam mit dem weiteren gehackten Ingwer und dem Koriander sowie dem Salz entweder in einer Schüssel vermengen oder in einer Küchenmaschine zu einer cremigen Masse vermixen.





Musik zum Menü
Wenn es um glühende Hitze, verwegenem Verschmelzen von einander Anziehendem, Gegensätzlichem geht, kann man sich beispielsweise an die frühen 90er erinnern und an „Blood Sugar Sex Magic“ der Red Hot Chili Peppers, die schon wegen der Chilis im Gericht passen, aber auch mit ihrer Mischung aus Funk, Metal, Rock (und später Pop) einen aufregenden Schmelztiegel brodeln lassen haben.
Dann, wenn alles aufs Schönste verschmilzt und sinnlicher Genuss erfüllt, berühren Portishead oft besonders. „Glory box“ etwa. Glorios ist das Gericht – der Song ebenfalls. „Give me a reason to love me…“, singt Beth Gibbons. There are plenty.
Wild, gewitzt, unverschämt einnehmend: die verrückten Wiesel von Malajube mit „Montreal -40° C“.
Auch passend, wildschön, nicht mehr aus dem Kopf gehend: Girl in red mit „I wanna be your girlfriend“.
TV On the Radio – Wolf like me
Wilde, besondere, ekstatische Nummern erschaffen auch Cari Cari, die Ideen aus ihrer österreichischen Heimat mit rauen, knisternden Klängen der Tarantino-Filme verquicken, und live wird es mitunter besonders heiß, wenn Stephanie Widmer Flammen aus ihrer Didgeridoo fauchen lässt (davon habe ich leider kein Video gefunden, aber Ihr kriegt auch so ein Gefühl).
Screaming Headless Torsos – Blue in Green
Portugal The Man – How the leopard got its spots
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Sofort zum Nachahmen verführt 🌶️🍆🥒🥥
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Wie schön! Hoff, Dir schmeckt es so toll wie mir! Schönen Feiertag!
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Wohoo, und danke für’s Verlinken. Jaja die langweilige Aubergine und was daraus noch so werden kann. Welch geniale Ideen du da verarbeitet hast…. ich bin noch gar nicht fertig mit Lesen. So toll!
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Lecker!
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