
Es war einmal vor langer, langer Zeit, da betrat ein junger Mann ein Haus, dessen Erdgeschoss voll gedeckter Tische stand. Er hatte seine Gesichtszüge unterhalb seiner grünen Augen hinter Stoff versteckt, das war seinerzeit so üblich, und kurz nachdem er sich an einen Tisch gesetzt hatte, eilte eine freundliche Frau, ebenfalls maskiert, herbei. Und sie sprachen miteinander, und er sagte ihr, er würde gern etwas zu essen und trinken bestellen, und er sagte ihr, was er gern essen und trinken würde, und sie notierte alles aufmerksam, und Servietten lagen gefaltet auf dem Tisch, und eine Kerze brannte darauf, und aus einer Vase lugten frisch gepflückte Blumen über den Rand. Und wenig später brachte sie ihm ein Getränk, es mochte ein Bier gewesen sein. Und Speisen tischte sie ihm auch auf. Und er bedankte sich. Und er aß, und er genoss, und er freute sich, wie köstlich alles war, und am Ende bezahlte er und ging. Und all das fühlte sich schön, aber gewöhnlich an. Es war ein kleiner Luxus, aber einer, den er, wenn er wollte, jeden Tag erleben könnte. Und wir schrieben den 6. September 2020, und er ahnte nicht, dass dies das letzte Mal für sehr lange Zeit sein würde, dass er so etwas erleben sollte.
Nach langer Zeit habe ich wieder einmal die beste Jeans aus dem Schrank gezogen. Ich habe mir ein weißes Hemd übergeworfen und sogar ein bisschen Parfüm aufgetragen. Feierliche Vorfreude auf etwas ganz Besonderes flutete den Körper. Es kribbelte ein wenig, fühlte sich fast aufregend an. Ich bin zum ersten Mal seit fast einem Dreivierteljahr wieder in einem Restaurant essen gewesen. Das ist eine Zeitspanne, in der andere Menschen ganze Häuser bauen oder am Ende der Schwangerschaft ein Kind zur Welt bringen. Fünf Trainer hat der FC Schalke 04 in dieser Zeit beschäftigt, vier davon wieder gefeuert.
Wenn die Pandemie bei aller Trauer um die, die es nicht geschafft haben, bei allem berechtigten Frust und allen gesellschaftlichen Zerwürfnissen sowie aller Verdrossenheit über den allzu leichtfertigen, mit unter wenig durchdachten und fragwürdigen Griff der Politik zu Grundrechten der Menschen ein Gutes hatte, ist es eine neue Demut. Sich über die kleinen Dinge wieder stärker freuen: Das Glück, Freunde ganz fest zu umarmen und sie zu spüren. Das Glück, mit Freunden in eine Kneipe zu gehen, gemeinsam Getränke zu bestellen, herumzualbern, Witze zu reißen, quer durch den Gesprächsthemen-Garten zu toben, zu kickern und dabei die Zeit zu vergessen. Einfach mal rauskommen, Tapetenwechsel.
Natürlich konnte man in vielen Restaurants auch Essen zum Mitnehmen ordern. Natürlich konnte man es sich schön machen und das Essen liebevoll anrichten, nachdem man es aus umweltunfreundlichen Aluschalen oder Styroporboxen geklaubt hatte. Ein wenig schal fühlt es sich im Vergleich trotzdem an. Mir wäre vorher nie in den Sinn gekommen, dass ich ein Glücksgefühl verspüren könnte, nur weil ich einfach in einen Baumarkt reingehen kann, weil ich gerade einmal ein zehn Meter langes Stück Kabel brauche, um Leitungen auf Putz zu verlegen. Genau das habe ich aber gespürt. Kleines Glück, ganz groß.
Und noch viel größer waren das Glück und die Vorfreude jetzt, als es zum ersten Mal wieder essen ging: ins aus meiner Sicht beste und für die hohe Qualität und Kreativität der Küche zugleich preisgünstigste Restaurant hier oben im äußersten Nordwesten Deutschlands, ins „Hotel zur Post“ nach Wiesmoor. (Das hier ist Überschwang, man kann es auch Werbung nennen. Es ist unbezahlte. Aus tiefster Überzeugung.) Ich kenne zumindest kein weiteres Restaurant in der Gegend, das Bodenständigkeit in ähnlicher Weise mit kreativen Finessen der Sterneküche paart, und zugleich immer wieder überraschend, aber dennoch beständig gut bleibt. Insbesondere das „Überraschungsmenü“, das für unter 40 Euro für viereinhalb Gänge pro Nase fast schon spektakulär im Preis-Leistungs-Verhältnis ist.

Zur Begrüßung gab es hausgebackenes Brot mit frischem Gurkenquark mit rotem Pfeffer und Kräutern. Und ich habe ein Bier bestellt. Und es fühlte sich fast verwegen an, fast ein bisschen aufregend. Das bis vor Kurzem noch Normale als Abenteuer.

Auf einem ersten Vorspeisenteller tummelte sich Hähnchenknusper mit Kräutern auf in süßscharfer Chilisauce mazerierten Tomatenschnitzen. In einem winzigen Schälchen, kaum größer als ein Schnapsglas, schäumte Bärlauchsuppe – von Pflanzen, die tatsächlich im Garten meiner Eltern gewachsen sind. Und auf knusprig dünnem Filoteig wölbte sich feiner Lachstartar mit zitrusfrischem Salat unter einer feinen Kressedecke.

Als zweiter Vorspeisegang folgte, was Juniorchef Henning, der in der Sterneküche gelernt hat, neuerdings liebt: eine Suppenpyramide aus zwei sich nach oben verjüngenden Schälchen. In der unteren gab es einen kräftigen, großzügigen Schluck edel-schlichter Spargelcreme-Suppe. Darüber, die Aromen raffiniert ergänzend, tummelten sich frische Krabben aus Greetsiel unter einem krossen Baldachin aus Parmesan auf einem Apfel-Rote-Bete-Salat-Bett.

Der Hauptgang ist bei den Überraschungsmenüs traditionell ein raffiniertes Sammelsurium einander umtanzender und ergänzender Aromen und Texturen. An mit Serrano-Schinken bardiertes Filet vom Bentheimer Schwein und mit Kräutern gefüllte Perlhuhnbrust in knuspriger Panade schmiegten sich zarte Spargelschnitze, raffiniert mit Bärlauchpesto gefüllte Gnocchi, zarte Süßkartoffel-Kräuter-Klöße, knackig zartes Linsengewimmel und Rahmwirsing sowie krosse Herzoginkartoffeln, verbunden durch mehrere feinwürzige Saucenschäume.

Und zum krönenden Abschluss gab es noch eine große Kugel hausgemachtes Eis aus griechischem Joghurt an mazerierten Erdbeeren, Schlagsahne mit Minzzucker und Schokosplittern, frischer Passionsfruchtcreme, Physalis und Kakaostaub.
Ganz unabhängig davon, wie köstlich ich das Essen fand und dort immer wieder finde, war es unfassbar beglückend, einfach mal wieder rauszukommen, sich bedienen zu lassen, nicht selbst am Herd zu stehen und auch fast ein bisschen nach Hause zu kommen, dort im Restaurant. Ich hoffe, das Glück bleibt uns nun erstmal wieder auf lange Zeit erhalten. Und so sehr ich Zweifel hege, dass die scharfen Zwangsschließungen in ihrer Radikalität überhaupt notwendig waren: Ich bin dankbar und werde es auch bleiben, dass dieses kleine, große Glück nun wieder möglich ist.
Musik zum Restaurantbesuch
Weil es hier ja quasi um die Post geht oder dort die Post abgeht, bieten sich The Postal Service an. Und weil die Qualität der Küche in Wiesmoor schon beachtliche Höhen erreicht, kann es nur „Such great heights“ sein.
Ich finde den Geschirraufwand einfach zu groß, trotz der vielen Gänge.
Kaufe ich jetzt ein Essen oder Geschirr samt dessen Spülmittelablagerungen.
Ich belebe gerade mein Blog:
http://www.suedtirolimbissfuehrer.com/serendipity/
Das musste leider wegen einer Pest, oder soll ich Seuche sagen, unterbrochen werden.
In diesem Jahr, lieber Freund, wird diese Virustotgeburt, wieder zum Leben erwachen:-))
Ich fahre schon ein paar Runden und nehme die Daten auf. Zuerst natürlich im Vinschgau.
Als ehemaliger Koch/Meisterkoch kenne ich diese Geschirrkacke. Auch hinter den Kulissen, fünfzig Jahre lang.
Es gab mal ein paar Länder und neue- gibt es wieder, deren unterschiedliche Speisenqualität weder optisch noch preislich beeinflusst wurden. Die Anbieter unterschieden sich tatsächlich und ausschließlich durch ihre Küchenleistung und nicht durch Zauber und Gaukelei.
Der absolute „Witz“ an dieser Feststellung ist der:
Alle hatten das gleiche Geschirr zur Verfügung und die damit verbundene Infrastruktur. Alles feinstens optimiert:-))
Und jetzt darf geraten werden, wer die vollsten Restaurants betrieb:-)
Die wirklich Besten:-))
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Das von mir beschriebene Restaurant zählt für mich eher nicht in die Kategorie „mehr Geschirr als Essen“. Die Portionen sind bei den Vorspeisen schon ein bisschen verschachtelt, generell aber sehr großzügig bemessen. Und es ist sehr regionale Küche, wo nur wenige Zutaten weite Wege machen, wo wenig Chichi ums Essen gemacht wird und vor allem der Geschmack guter Zutaten König ist. Auf die Revitalisierung Deiner Totgeburt bin ich sehr gespannt. Grad schonmal gespäht. Sobald mehr zu sehen sein wird, werde ich gern lesen… auch wenn ich wegen winzigen Kreischkrümels, der nicht gern Auto fährt, vermutlich noch ne ganze Weile nicht ins eher 1200 Kilometer entfernte Südtirol kommen werde, und auch das Vinschgau ist leider weit.
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Ich liebe regionale Küche und vor allem, die Küche, bei der man sein Essen noch erkennen kann.
Unsere neuen Landsleute, die „Walschen“ (nach regionaler Aussprache geschrieben), lieben übersichtliche, aber raffiniert gekochte Gerichte. Übertriebene Garnituren sind ihnen ein Gräuel. Zu regional gehört für mich nicht, importierte (auch züchterisch) Rohstoffe zu verwenden.
Generell ergeben sich neue Gerichte mit der Anwendung neuer Technologien und neuer Techniken. Es gibt bei uns schon viel zu viele Rohstoffe mit fremder Herkunft (z.b. Kakao), die uns wirklich leicht vergessen lassen, wie die Bauern und Völker jener Länder gequält werden.
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