Auf den Suche nach dem Ursprung eines Klassikers.

Wenn es ums Essen geht, werden italienische Nonnas mitunter strenger, als „Harzer Roller“ riechen – und ein bisschen verwandeln sie sich dann in Paul Winkelmann, der beim Scrabble-Spielen in Loriots famosem Film „Ödipussi“ faucht: „Wenn man sich nicht an die Regeln hält, macht es keinen Spaß.“ Seit ich Kind bin, liebe ich – wie so viele – Nudeln mit Tomatensauce oder auch insbesondere mit dem, was als Bolognese-Sauce aufgetischt wird. Ich habe nicht gezählt, wie viele unterschiedliche Varianten davon ich in meinem Leben schon gekocht und gegessen habe.
Ich habe Dinge getan, für die manch sittenstrenge Nonna mich möglicherweise nudelholzschwingend verfolgt hätte:
- die Sauce mit Thymian, Fenchel und auch Rosmarin gewürzt
- Granatapfelsirup für etwas fruchtige Süßsäure hineingemogelt
- für mehr Vollmundigkeit japanisches Miso reingeschmuggelt
- das Hack mit einem Glas Milch übergossen und dieses komplett einkochen und verdampfen lassen, um das Fleisch zarter zu machen (Tipp der Riesin der italienischen Küche, Marcella Hazan)
- das Ganze feurig mit Chilis angeschärft
- eine winzige Zimtnote ergänzt
- Zitrusschale für mehr Frische hineingerieben oder frische Zitronenverbene drübergestreut
- dem Drei-Sterne-Koch Heston Blumenthal folgend Sternanis für vollere Aromen mitköcheln lassen
- bei den Kochweinen variiert
- stattdessen auch schon etwas Apfel-Essig oder Cranberrysaft und ein Stückchen Schokolade genutzt
- die Sauce mit Sahne aufgegossen
- Tomatenmark hineingedrückt
- die Mengen von Hack zu Tomaten variiert
- auch rein vegetarische Varianten getestet und genossen
Fast jede dieser Varianten war für sich köstlich. Und mir ist grundsätzlich wichtig, was schmeckt, nicht was die Stilpolizei sagt oder die Ultra-Traditionalisten fordern. Experimentieren hält jung, lebendig und teilweise ziemlich positive Überraschungen parat. Ich habe auch gewagt, jetzt wird’s wild, was in Italien fast als Affront erlebt wird: Spaghetti zu Bolognese-Sauce zu servieren. Macht dort niemand.
Doch so genussvoll ich meiner Kreativität freien Lauf lasse und so neckisch ich auch gern gegen Regeln verstoße, so macht es ja doch Sinn zu wissen, gegen welche Regeln man überhaupt verstößt und den Ursprung der Köstlichkeit zu kennen, die man liebend gern selbst variiert – auch je nachdem, was grad in Kühlschrank oder Gemüsefach so wohnt und verkocht werden möchte. Deshalb wuchs in mir das Bedürfnis den Wurzeln des Ragù bolognese nachzuspüren, zu erfahren, auf welchem Ur-Rezept die Sauce fußt. Ich habe gesucht und bin fündig geworden, gibt es doch die Accademia Italiana della Cucina, die Akademie der italienischen Küche, die das vermeintliche Original festschreiben lassen hat. Dies ist das aktualisierte Rezept für das echte Bologneser Ragout, das am 17. Oktober 1982 von der Bologneser Delegation der Accademia Italiana della Cucina bei der Handelskammer Bologna hinterlegt wurde. Natürlich ist in Wirklichkeit jedes einzelne Rezept jeder einzelnen Nonna oder Mamma das beste. Jedes für sich. Und es gibt so viele ultimative Rezepte wie Herde, auf denen die Saucen köcheln.
Dabei hat die Corte Suprema di Cassazione, der Kassationsgerichtshof als höchstes Gericht Italiens bereits im Jahr 1980 in einem Urteil festgestellt: Eine Sauce darf nur dann „Bolognese“ genannt werden, wenn zum Ragù als Pasta Tagliatelle serviert werden. Spaghetti? Vom Hof mit Dir? Penne? Fusilli? Linguine (die ich bevorzuge)? Trink weniger!
Zudem müssen die Tagliatelle, so sagt es das Gesetz in Italien, auch noch einem ganz bestimmten Maß entsprechen: Sie müssen im gekochten Zustand in der Breite ein Zwöftausendzweihundertsiebzigstel (1/12.270) der Höhe des Torre degli Asinelli messen. Liegt völlig nahe, oder? Wie sollte man je auf ein anderes Verhältnis kommen? Dieser Geschlechterturm aus dem frühen 12. Jahrhundert – einer der zwei schiefen Türme der Stadt – als Symbol des einst reichen Stadtadels ist 97,2 Meter hoch. Heißt: Acht Millimeter breit sollen die Nudeln gefälligst sein. Für diejenigen, die nochmal sichergehen wollen, findet man im Palazzo della Mercanzia eine aus Gold gegossene Tagliatella, die als originalgetreuer Maßstab dient.

Die rekonstruierbaren Wurzeln des Klassikers reichen mindestens bis ins 16. Jahrhundert zurück, als man die Sauce den Adligen und Reichen servierte. Seinerzeit allerdings noch ohne Tomaten. Denn denen trauten seinerzeit selbst Vorkostet nicht über den Weg, in Angst um ihr Leben: Hieß es doch, Tomaten seien giftig. Erst seit dem 19. Jahrhundert ist das ragú auch mit Tomaten als Saucenbestandteil belegt.
Alles Puritanische mag am Ende ein ähnliches Traditionalisten-Muskelspiel sein, das völlig praxisfern ist und von kaum wem wirklich so umgesetzt wird – wie bei der ostfriesischen Teezeremonie, bei der ich auch fast keinen einzigen Ostfriesen kenne, der alle Regeln überhaupt kennt, geschweige denn befolgt (Sahne gegen den Uhrzeigersinn eintröpfeln, bis sie Wolken erblühen lässt und zugleich die Zeit anhält, nicht Rühren, erst beim zweiten Tee darf man einen Keks dazu essen und so weiter). Aber es ist ein Fanal fürs Ursprüngliche. Oder für das, von dem man heute glaubt, dass es das Ursprüngliche war.
Die weltweit wohl bekannteste Kombination Spaghetti bolognese, auch wenn die laut Accademia ja gar nicht so heißen darf vereint zwei Zutaten aus unterschiedlichen Regionalküchen Italiens, köstliche Sauce aus dem Norden und Hartweizenpasta aus dem Süden, die ursprünglich keinen Bezug zueinander hatten. Man mutmaßt heute, dass es der Erfolg des 1917 erschienenen Kochbuchs „Practical Italian recipes for American kitchens“ von Julia Lovejoy Cuniberti war, der dieser Kombination zum Durchbruch verhalf. Das Büchlein wurde zur finanziellen Unterstützung italienischer Familien gedruckt, deren Männer im Ersten Weltkrieg an der Front standen. In dem Werk werden Spaghetti als Alternative zu Tagliatelle angeführt. Wobei dies wohl erst bei der englischen Übersetzung geschah und im Original Makkaroni als Alternative zum Ragù erwähnt werden. Das Ganze hatte auch einen praktischen Aspekt: Denn Spaghetti, die Hartweizennudeln, waren seinerzeit schon über Einwanderer aus dem Süden Italiens in den USA verbreitet und auch im Handel zu kriegen. Auf die aufwendige Herstellung frischer Eiernudeln, fürchtete man, hätten die Menschen an den Herden in den USA wenig Lust.
Und wie schmeckt das Ganze jetzt? Unglaublich tief und fruchtig, gerade durch die lange geköchelten Tomaten. Komplex und zugleich reduziert und aufs Wesentliche konzentriert, indem hier nur mit Salz und Pfeffer abgeschmeckt wird. Purer Genuss. Mit Betonung auf pur. Und auch auf Genuss. Der Wein verstärkt die Aromen und steuert feine Bitternoten bei. Die Milch mildert die Säure. Und mit kräftig Parmesan bestreut, ist es schon umwerfend. Und darauf aufbauend, kann man ja immer noch entscheiden, ob der kleine Thymian, der frische, etwa beim nächsten Mal wieder mitspielen darf. Oder ob der pure, aufs Wesentliche reduzierte Klassiker genau so wiederkommen darf, wie ihn die Accademia als „Gesetz“ festgeschrieben hat. Ich finde, das hier ist ne echte absolute Wucht! Und es tut genau das, was „Ragù“ im Ursprung bedeutet: Es kitzelt den Gaumen. Auf wundervolle Weise!
Übrigens gibt es auch für die Momente vor dem Servieren verflixt strenge Regeln, die zu beachten sind. So schreibt Marcella Hazan in ihrem wirklich fantastischen Kochbuch-Meilenstein „Die klassische italienische Küche“ (Echtzeit-Verlag, S. 121): Pasta „muss den Zähnen immer etwas Widerstand bieten. Ist das nicht der Fall, wird Pasta schwer, verliert ihre Spannkraft und kann das Aroma der Sauce nicht mehr richtig transportieren“. Und mehr noch: „Pasta muss in dem Augenblick abgegossen werden, in dem sie al dente ist, und nicht eine Sekunde später. (…) Die Sauce muss bereitstehen, wenn die Pasta abgegossen ist. Lassen Sie die die Pasta nicht im Sieb warten, bis die Sauce zu Ende gekocht oder wieder erwärmt ist.“ In der hat man die Nudeln gefälligst zu wenden, denn erst das Wenden in der Sauce verbindet die vorher getrennten Dinge. „Das Öl oder die Butter muss die Pasta vollständig und gleichmäßig überziehen, in jede Rille kriechen und die Saucenzutaten mitnehmen!“ Vor allem aber: „Haben Sie die Pasta in der Sauce gewendet, servieren Sie sie sofort und fordern Sie Familie oder Gäste auf, die Unterhaltung abzubrechen und unverzüglich mit dem Essen anzufangen!“ So! Bescheid! Und so streng all die Anweisungen sind, so haben sie doch Sinn. Und wer die Pasta auf diese Weise einmal gekostet hat, spürt: „Wenn man sich an die Regeln hält, macht es durchaus Spaß.“
Zutaten für 4 Personen
300 g grob zerkleinertes Rindfleisch (Bauch oder Bauch der Schulter oder Keule)
150 g Pancetta (Schweine-Bauchspeck), alternativ kann man auch Schinkenwürfel nehmen
50 g Möhren
50 g Staudensellerie
50 g Zwiebel
300 g Tomatenpüree oder geschälte Dosentomaten
½ Glas Rotwein
1 Glas Vollmilch, etwas Brühe, Olivenöl oder Butter
Salz und Pfeffer
½ Glas Sahne (optional)

Und diese Zubereitungsweise schreibt die Accademia Italiana della Cucina vor:
Den zunächst in Würfel geschnittenen und dann halbmondförmig fein gehackten Bauchspeck in einer Pfanne mit dickem Boden schmelzen.
Drei Esslöffel Öl oder Butter und die fein gehackten Zwiebel-, Sellerie- und Möhrenwürfelchen dazugeben und leicht anschwitzen lassen.
Das Hackfleisch dazugeben und mit einer Kelle gut umrühren und anbraten, bis es „brutzelt“. Den Wein hinzufügen und vorsichtig umrühren, bis er vollständig verdampft ist.
Das Tomatenpüree oder die geschälten Tomaten dazugeben und zugedeckt etwa zwei Stunden langsam köcheln lassen, dabei nach Bedarf Brühe nachgießen; gegen Ende die Milch hinzufügen, um die Säure der Tomaten zu mildern. Mit Salz und Pfeffer abschmecken.
Wenn die Sauce fertig ist, wird nach Bolognese-Art Sahne hinzugefügt, falls man dazu getrocknete Pasta gekocht hat. Für frische Tagliatelle ist Sahne wiederum tabu.
Musik zum Menü
Klar könnte man jetzt, wo es doch schon ach so traditionell zu geht, hier auch Volksweisen aus der Emilia-Romagna schmettern lassen. Aber irgendwo ist auch mal Schluss. Und somit gibt es hier stattdessen den großen Verwandschaftslust-Gassenhauer „Bologna“ von Wanda. Im Hintergrund des Videos kann man zudem den Torre degli Asinelli erkennen.
Geeenau mit diesem Thema hab ich mich in sehr ähnlicher Weise vor ein paar Wochen beschäftigt und genau das Gleiche recherchiert wie Du hier. Ich habe die Bolo genauso gekocht und Männe hat gemeckert…es wären zu wenig Tomaten un Soße…ich ihm das hier groß und breit genauso erklärt…ihm egal, nein, so will er das nicht. Daraufhin noch passierte Tomaten dran geschmissen und gedacht…ok, so sind sie, die Kulturbanausen 😂
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Wenn man(n) doch nun aber gern mehr Tomaten hätte… ist es doch nur folgerichtig. Im Zweifel waren es ja auch keine Köche, sondern Bürokraten, die die Regeln festgelegt haben. Und vielleicht ähnlich zurechnungsfähige, wie die, die nach literweise Chianti festgelegt haben, dass Tagliatelle in der Breite gekocht doch bitteschön 1/12.270tel der Höhe des Torre degli Asinelli haben sollen. 😀
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Das finde ich am Lustigsten
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Ich finde die halbmondförmig zu schnitzenden Pancetta- oder Schinkenspeckteilchen auch nicht schlecht. 😀
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Schon spannend, die Geschichte um das Rezept. Hier ist Bologneser Art immer etwas von der Verfügbarkeit der Zutaten abhängig…. und kommt zumindest gelegentlich dem Original nahe.
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Pancetta zu kriegen, ist hier auch knifflig. Aber hier und da ist das Original super. Danke 🙏🏼
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das ist bei uns ganz einfach, es gibt etliche italienische und sizilianische Supermärkte
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Beeindruckend. Davon kann man in Ostfriesland nur träumen
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dafür habt ihr Fisch!
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Keine Ahnung, inwiefern man hier mehr und frischeren Fisch kriegt als bei Euch. Die kleinen, überwiegend uralten Kutter, die von hier aus noch lostuckern, gehen ja überwiegend auf Krabben – und verkaufen sie auch in der Regel vor allem an industrielle Großabnehmer, die sie zum Pulen nach Marokko schicken… wirklich vor Ort bleibt ja der winzigste Teil.
Aber mag trotzdem sein, dass man hier einfach mehr Fisch kaufen könnte.
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Meine Mama wuerde sich im Grab drehen, aber vermutlich auch, wenn ich meine Bolognese mache! Jede Mama hat in Italien „das Beste“ Rezept, aber alle sind leicht anders und so wie die Tradition sagt, schon gar nicht mehr. Wir sind moderne Menschen, die das essen, was gut schmeckt und nur darauf kommt es an! Super Idee mit dem Granatapfel und Miso, es ist einen Veruch Wert!
LG Wilma bekennende Halbitalienerin und total verfressen
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Genau das hab ich ja auch versucht zu beschreiben. Tausend Dank! Und manchmal hilft Rotation six feet under ja, für mehr Frischluft zu sorgen und die alten Knochen beweglich zu halten. 🙂
Fenchelsamen dezent eingesetzt sind übrigens auch toll. Oder ein kaum merklicher Hauch Zimt
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Der „merkliche“ Zimthauch erinnert mich an Griechenland – eine dem Ragu Bolognese ähnliches Gericht – Kokkinisto duftet veführerisch danach.
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Es war auch tatsächlich die Idee, Bolo mal etwas in Richtung Griechenland zu drehen. Und in Richtung Kokkinisto (ich liebe es), Imam Bayildi oder Moussaka zu driften. Zart. 🙂
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Fenchelsamen gehoeren eh fast ueberall rein, meine selbstgemachten italienischen Wuerste strotzen davon, aber man merkt nicht viel.
LG Wilma
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Ich liebe Fenchelsamen auch sehr. Zurecht. 🙂
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hallo Ole,
ich muss mal wieder „meine“ Bolognese kochen. Wir lieben sie auch, ich koche sie seit Jahren „us d’r Lameng“ und sie schmeckt immer super gut. Deinen Bericht hier fand ich ganz interessant. Ich denke auch, 1000 italienische Mamas, 1000 Köche, mindestens 3000 verschiedene „echte“ Bolognesesaucen. Und jede wird unvergleichlich lecker schmecken. Ich stehe auch auf dem Standpunkt, egal wie man sie letztendlich kocht, Hauptsache es schmeckt.
Liebe Grüße, Katharina
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Ich kann Dir nur in jeder Form Recht geben. Ich war bei allem einfach neugierig, wie es wohl wird, wenn ich mich statt spontaner Improvisationen einfach mal strikt an die strengen Regeln halte, die die Accademia vorgibt. Witzig bei allem, dass sie selbst zehn Jahre zuvor ein durchaus noch deutlich anderes Rezept vorgegeben hat. Mit Weißwein. Und ganz anderen Mengenverhältnissen. Und das erst auf Protest hin noch getauscht hat. Spricht für unsere gemeinsame These. 🙂
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Oh ja, Marcella Hazan und die Milch. Kommt bei mir auch immer rein. Allerdings hab ich auch mal Ralf’s Bolo verbloggt. Mit Sardellenpaste, Kurkuma, Kashmiri Chili, orientalischem Paprika und so. Wenn ihn die italienischen Nonnas mal erwischen….dann ist was los 😉 P.S. ich krieg immer mehr Hunger….
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Sardellenpaste finde ich sehr nachvollziehbar, Kashmiri Chili auch. Kurkuma mag ich als Teil von Masalas, find ich allein als Gewürz aber immer so staubig. Sie schmeckt fast wie sie aussieht. Gelb. 😀
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Und Puristen bewahren ja auch reduziert Tolles. Ich bin trotzdem leidenschaftlicher Regelbrecher 🙂
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Und die Sache mit der Milch erfüllt ja auch sehr gute Zwecke, finde ich. Wie Hazans Rezepte generell groß sind.
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