
Trommeln wirbeln, Fanfaren schmettern. Revolutionäre Marschmusik zerreißt die Nacht und wirft uns aus dem Bett. Krächzt aus Lautsprechern quer durchs Gassenlabyrinth in der Altstadt von Hanoi, wo auch Ivan mit dickem Kopf in einem Hostel aufwacht: Die Silben scheppern im Kopf, vage Erinnerungen an letzte Nacht liegen wie Scherben im Hausflur seines Hirns. Und er blickt an sich herunter. Ein Mulltuch umwickelt seinen Fuß. Er zieht daran, grunzt vor Schmerz, dann schlägt er sich an den Kopf, fällt zurück ins Bett und weiß: Es war kein Traum, dass er sich nachts knüppeldicht den Namen einer Straßenköter-Biermarke auf den Fuß tätowieren lassen hat: „Bia hơi 5K“, zu Deutsch: frisches Bier, das 5000 Dong kostet. Umgerechnet etwa 20 Cent. Ivan weiß nicht mehr, wie viele davon er in der Nacht zuvor gesoffen hat, am Rande der Hàng Buồm auf Kindergartenhocker gekauert. Bia hơi ist Fassbier, und Abend für Abend wird es aus Stahlfässern an Straßenrändern gezapft und ausgeschenkt. Pop-Up-Kneipen, die am nächsten Morgen wieder verschwunden sind. Oder schon, kurz nachdem das große Fass leergetrunken ist. Drei Fässer hat die kleine Frau wie jeden Abend vor heruntergelassene Rollläden geschleppt und dort aufeinander gestapelt, den Zapfhahn reingehämmert, ein paar Tischchen aufgestellt, auf den Hockern tummeln sich in munter wechselnden Gruppen Rucksackreisende. Wer pinkeln muss quetscht sich in eine meterbreite Seitengasse, wo hinter einer Stahlklappe ein kleiner stinkender Abort wartet. Abartig trifft es umso mehr. Wer kann, spannt die Schließmuskeln. Aber wo das Bier doch so günstig ist: „Komm, zapf‘ nochmal ne Lage.“



Die allmorgendlichen Rufe, die auch Ivan aus dem Schlaf gerissen haben, erschallen irgendwann morgens um sechs, kurz bevor der Zweitakt der Stadt losbebt, bevor die Mopeds, Mofas, Motorroller und Motorräder einfallen. Fast sechs Millionen von ihnen brausen allein durch die Hauptstadt Vietnams, überknattern Gespräche, zerfetzen Silben, tauchen die Straßen in süßliche Abgase, sorgen mit dafür, dass die Stadt immer wieder von Smog verschluckt wird. Vorgestern war es das Heer der Radfahrer, das sich klingelnd die Straßen eroberte, gestern knatterten Mopeds auch durch die engsten Gassen. Inzwischen verstopfen allerdings auch immer mehr Kleinwagen aus Japan und China die Straßen. Bis Ende des Jahrzehnts sollen die Mopeds von den Straßen verschwunden sein, heißt es. Wie Hanoi danach wohl klingt? Ein U-Bahn-Netz ist im Aufbau, doch noch nutzen es die Wenigsten. Motorräder und Phở, die beste Nudelsuppe der Welt, sind für viele Vietnamesen Grundnahrungsmittel. Während die Erinnerung an den Duft von Sternanis und Zimt, Koriander und Ingwer meine Nase kitzelt, werde ich ein wenig wehmütig und das Fernweh puckert. Siebeneinhalb Jahre ist es her, dass ich dort war.










Loblieder auf die Partei und kitschige Heimathymnen folgen beim Morgenweckruf in Hanoi. Dazwischen: Nachrichten. Oder Ansagen. Rätselhafter Singsang für die, die keine Silbe entziffern können, während sie sich unter sirrenden Ventilatoren im Bett noch einmal von rechts nach links drehen. „Werfen Sie Ihren Müll nicht auf die Straße!“, sagen sie, sagt Nguyen am Frühstücksbuffet im Hostel, einen Pulverkonzentrat-O-Saft in der Hand, als ich ihn frage, was all das soll. „Viele hier haben kein Radio, keinen Fernseher. Deshalb gibt es hier Nachrichten per Lautsprecher. Wobei Nachrichten, es sind eher moralische Belehrungen, wie man Übel korrekt vermeidet.“ Den Müll, der am Vortag schon nicht auf der Straße landen sollte, haben Hundertschaften im Dunkel beiseite gefegt, aufgekehrt, in Container geworfen, auf Laster geladen, aus der Stadt gebracht.



Der Lautsprecher-Weckruf ist die blechernd scheppernde Ouvertüre zum Brodeln der Tage in der Hauptstadt Vietnams – auch wenn die fliegenden Händlerinnen weit früher aufgestanden sind und noch im Nachtdunkel des Morgens – den typischen, Non genannten Strohhut auf dem Kopf – die unter ihren Tragejochen baumelnden Körbe oder Fahrräder mit Bananen und Mangos und Bananen und Cherimoyas, diesen seltsamen schuppigen Rahmäpfeln, beladen haben und sich an den Straßenrändern niederlassen oder durch die Gassen schieben. Auch Drachenfrüchte oder Weintrauben oder Mangostan-Früchte bieten sie feil. Rambutans recken ihre Stacheln zuhauf. Unter anderen Tragen baumeln Blechkochtöpfe und Kohlen, klappern Schöpfkellen und Messer. In den Pötten: Fleisch, Kräuter, knollige Ingwer-Rhizome, Gemüseschnitze, Spieße. Zutaten, mit denen die Straßenchefs den Morgen über offenem Feuer zerkochen. Vögel zwitschern, eingesperrt in winzige Käfige.










Familien klauben ihre Bettdecken vom Fußboden im kleinen Geschäftsraum, in dem sie gerade noch geschlafen haben, lassen die Rollos vor ihren Geschäften hochrattern, wischen sich die letzten Schlafkrümel aus den Augenwinkeln – und begrüßen den Tag und die ersten Kunden. Die ersten Mopeds sausen heran, teils meterhoch schwanken Pappkartons auf den Gepäckträgern. Andere sind ebenso üppig beladen mit Reissäcken, Ziegelsteinpacken, Gummitieren, Heuballen, Wasserkanistern, Blechkochtöpfen, Klopapier, Kanalrohren, Nähgarnrollen, ein gefühltes Fuder. Spanngurte ächzen und geben ihr Bestes. Rikscha-Fahrer haben die Samt-Baldachine ihrer Räder abgestaubt, wienern die Chrom-Streben und steigen auf, langsam tretend auf der Suche nach Kundschaft. Wohin man tritt, flattert der gelbe Stern auf rotem Grund, die Nationalflagge Vietnams im Wind und bauscht sich. Touristen, die von „Gangster-Nutten“ auf Motorrollern tiefnachts angequatscht und bedrängt worden sind und sich ihr Handy klauen lassen haben, beißen in Gedanken in imaginäre Tischplatten.
Handwerker schieben Holzlatten durch die Straßen, ihre Karren krächzen und quietschen. Aus den versteckten Hinterhoftempeln steigt Weihrauch auf. Ein Glatzkopf verbrennt Falschgeld, in der Hoffnung, dass die Götter ihn mit echtem Geld reich machen. Pressluftbohrer rattern, während wenige Meter daneben ein Spanferkel über Holzkohle zu brutzeln beginnt. Andere füllen ihre Bauchläden mit Gebäck oder frittierten Tapioka-Spiralen, wobei die Touristen – die, auf deren Geld sie hoffen – in der Regel noch schlafen, sich nach der revolutionären Radio-Runde noch einmal umgedreht haben. Zu früh. Auch Ivan wälzt sich nochmal zur anderen Seite.




Die Altstadt von Hanoi ist ein Wimmelbild, gelebte Chaostheorie. Ein quirliger Mikrokosmos, der voller Halsketten hängt, die zu Abertausenden umherbaumeln, Handydisplay-Hüllen, Jeans, T-Shirts glitzern und knistern tonnenweise in Plastikfolie eingeschweißt. Hühnerschenkel brutzeln über Holzkohle, Schweinebauch wird in Karamell getränkt, Thai-Basilikum, Minze, Koriander, Zwiebeln, Wasserkresse, Okraschoten und Bittermelonen dösen in der Nachmittagshitze in Plastikschüsseln. Touristen, die allmählich aufgestanden sind, drücken ihre Nase im Lonely Planet platt, recken den Selfiestick in den Himmel als wollten sie auf der Stelle vom Blitz getroffen werden – oder irren den Handy-Empfehlungen von Tripadvisor hinterher, um die heißeste Imbissbude zu suchen. Nie zu vergessen: Motorräder knattern. Auf denen, die gerade nicht knattern und nur am Wegesrand stehen, fläzen sich mitunter Jungspunde, bieten ihre Taxidienste an und rufen „Motobai! Motobai?“ Sie sausen dann etwa zum Ho-Chi-Minh-Mausoleum, zum botanischen Garten oder dem Westsee mit seiner legendären Pagode. Dorthin, wohin man zu Fuß doch sehr lange unterwegs wäre. Stromkabel verknäueln sich an Masten und über die Straßen hinweg zu Dschungeln, bei denen man Stoßseufzer zum Himmel schickt: „Mein Gott, nie möchte ich hier Elektriker sein und Fehler finden müssen.“ Oder man steht einfach und staunt.















Am Südrand der Altstadt, etwa drei Kilometer vom Ho-Chi-Minh-Mausoleum, vor dem Soldaten paradieren und Besucher Schlange stehen, fließen die schmalen Gassen auf einen großen geteerten Platz. An dessen Gegenseite ragen Bäume auf, als wollten sie im Schulterschluss den Stadtlärm abschirmen vom Hồ Hoàn Kiếm, dem „See des zurückgegebenen Schwertes“. Dort, wo frühmorgens Walzer aus Ghettoblastern säuseln, während Frauen an den Ufern eine Mischung aus Tai Chi oder Schattenboxen und Tanz als Frühsport zelebrieren.
Warum Schildkröten-See? Anfang des 15. Jahrhunderts, während der chinesischen Besatzung, übergab der Sage nach eine riesige, im See lebende, goldene Schildkröte dem armen Fischer Lê Lợi ein Zauberschwert. Mit dem soll er im zehn Jahre währenden Kampf die Truppen der Ming-Dynastie vernichtend geschlagen haben. Der kleine, arme Fischer wurde im Jahre 1428 König. Nach der Siegesparade begab sich der junge König zum See am Rande des Roten Flusses, um den Göttern zu danken. Da tauchte die goldene Schildkröte erneut auf und forderte das Schwert zurück. Bevor Lê Lợi ich entscheiden konnte, löste sich plötzlich das Schwert aus der Scheide, stieg zum Himmel empor und verwandelte sich in einen großen jadefarbenen Drachen, der über dem See schwebte und dann in die Tiefe stürzte.
Lê Lợi ernannte das Tier zum Schutzgeist des Sees. Aus Dankbarkeit und zur Erinnerung an dieses Ereignis ließ er auf einer kleinen Insel in der Mitte des Sees den dreistöckigen Schildkrötenturm (Tháp Rùa) errichten, der bis heute das Wahrzeichen Hanois ist.






Am Anfang der Stadt aber war der Drache. Denn auch die Gründung Hanois ist Legende. Im Jahre 1010, so geht die Sage, sah ein König auf der Durchreise einen Drachen aus dem Roten Fluss steigen. Zusätzlich erschien ihm ein weißes Pferd an der Biegung des Stroms. Wunder genug, um an dieser Stelle eine Stadt zu gründen. Noch immer gilt der Rote Fluss als die Lebensader einer Hauptstadt, die ihren Charme aus ihren Gegensätzen bezieht.


Und dann gibt es da noch etwas Legendäres zwischen all den Legenden rund um Hanoi: Eierkaffee. Es war auf dem Weg zur Parfüm-Pagode fernab der Stadt, dass Nguyen, unser Reiseführer, uns einschärfte, wir dürften nicht abreisen, ohne nicht einmal Cà phê trúng, Eierkaffee, im legendären Café Giang probiert zu haben. Der Gedanke an Eier und Kaffee erinnerte mich mit leichtem Würgen im Hals an uralte Großmütter-Rezepte gegen Krankheiten. Doch als ich es wagte, fiel ich hingerissen fast vom winzigen Hocker. Fast. Denn der süßmilde Schaum, der an Zabaione erinnert, verbindet sich traumhaft mit der satten, zartbitteren Würze des vietnamesischen Kaffees. Wer immer dieses Rezept, das nun gleich folgen wird, nachmacht: Ich kann nur empfehlen, sich Kaffee vietnamesischer Röstung zu besorgen, denn das Erlebnis wird nochmal ein ganz anderes, denn die Aromen unterscheiden sich von klassischen Röstungen deutlich.
Das legendäre Café Giang liegt versteckt in einer kleinen Gasse in der Nguyen Huu Huan Street in der Altstadt. Gegründet wurde es vor gut 75 Jahren von Nguyen Giang, der als Barkeeper für das berühmte Fünf-Sterne-Hotel Sofitel Legend Metropole Hanoi arbeitete. Seiner Legende nach (ohne Drachen und Schildkröten) war Milch im Jahr 1946 in Vietnam knapp. Seinerzeit war es ungewöhnlich, dass Vietnamesen wie Nguyen Giang für ausländische Arbeitgeber – Franzosen in diesem Fall – arbeiteten. Um den französischen Herren statt des geliebten Café au lait etwas Ähnliches bieten zu können, obwohl Milch so knapp war, ersetzte er Teile der Milch durch geschlagenes Eigelb und schuf eine luftige Creme, die längst zum Kult geworden ist. Dieses Rezept kommt relativ nah an meine Erinnerung, auch wenn das Café selbst beteuert, auch noch Butter und Frischkäse in unbekannten Mengen zu verwenden.

Vietnamesischer Eierkaffee
Zutaten für 4 Becher:
4 Eigelbe (bevorzugt bio)
60 Milliliter gesüßte, dicke Kondensmilch (etwa von Longevity ausm Asialaden, Milchmädchen geht aber auch)
4 Esslöffel Milch
2 Esslöffel Zucker
4 Kardamomkapseln
1 winzige Prise Salz (optional)
400 Milliliter starker Filterkaffee (bevorzugt vietnamesischen, etwa Trung Ngueyen ausm Asialaden, normaler geht aber sonst auch)
Zubereitung
- Starken vietnamesischen Kaffee mit ordentlich Wumms aufbrühen (keine dünne Plörre, bittesehr).
- Die Kardamomkapseln abziehen, die Samenkörner mörsern (für Faule: gemahlener Kardamom, etwa ein Teelöffel, geht natürlich auch).
- Die Eigelbe mit Kondensmilch, Milch und Zucker (und eventuell einer Miniprise Salz) in einer runden Metallschüssel verrühren und mit einem Schneebesen über einem heißen bis kochenden Wasserbad cremig-dicklich aufschlagen. Mit einem Mixer weitere fünf Minuten aufschlagen, um die Masse noch luftiger zu machen.
- Dann je ein Viertel des Kaffees unten in die Becher gießen und das Ganze mit einer dicken Schicht Eischaum überlöffeln.
Musik zum Menü
Es gibt unzählige Songs mit Hanoi und auch Hanoi und Café im Titel. Als ich mich recherchierend durchgebuddelt habe, war ich aber immer wieder konsterniert. Musikalischer Kitsch, teils auch nur Mist, finde ich. Daher gibt es jetzt einfach andere Songs. Etwa diesen, mit dem auf den Ohren ich seinerzeit mit dem Zug in Hanoi eingefahren bin:
Und um sich vom Gewirrl und Gewusel der Stadt zu erholen, bietet sich die zauberschöne nagelneue Single von Sohn an. Die hat zwar so gar nichts mit Hanoi und Vietnam zu tun, ist aber trotzdem wundervoll.
Wow, Ole … Deine Bilder sind auch abartig. Abartig schön. Du hast ein großes Talent … Und die Geschichte mit Ivan und dem Tattoo, die klingt ganz ganz verdächtig nach einer Fortsetzung von Hangover ;-)))
Alles Liebe!
LikeLike
Interessant! Ich war vor Jahren in Saigon und Dalat, und hätte Vietnam gern wieder besucht, wenn da nur nicht der elend lange Flug (23 Stunden von der US-Ostküste) wäre…
LikeGefällt 1 Person
Ich würde auch sehr gern wieder hin. Die Flugdauer in Summe wäre zwar kürzer, aber alles in allem war auch ich damals gute 24 Stunden unterwegs. Und aktuell mit Kleinkind: keine gute Option 😀 Danke für Deinen Besuch, gern wieder. Hab ein tolles Wochenende!
LikeGefällt 1 Person