
Spät, irgendwann nach Mitternacht, stand er plötzlich vor der Tür. Hatte an der Wohnung geklingelt. Irgendeiner der Partygäste hatte ihm geöffnet. Groß war er, um die zwei Meter. Er trug eine Art Tirolerhut. Mit dem verhedderte er sich in einer Lichterkette. Hinter das Hutband hatte er ein paar bunte Federn gesteckt, an der Krempe baumelte ein Stofftier-Traumfänger. Der Hut rutschte ihm vom Kopf. „Tz“, sagte er. Schüttelte den Kopf, bückte sich und hob ihn auf. Seine Haut war blass, ein wenig wie Betonstrassen nach dem Regen. Bartgestrüpp versteckte sein Kinn. Braune Locken ringelten sich auf seinem Kopf. Buschige Augenbrauen wuchsen über seiner dicken Nase zusammen, deren Form ein wenig an die Krim erinnerte.
Die Augen selbst schimmerten, als wären sie den Tränen nahe. Graue Augen erwecken diesen Eindruck häufig. Um den Hals trug er eine Kette aus Glasscherben. Die funkelten im bunten Discolicht, das aus dem Wohnzimmer hinüberblitzte. Wie eine Statue stand er da, und erst als eine ganze Weile vergangen war, begann er zu lächeln. Er sagte Hallo. Mehr nicht.
Doch wie selbstverständlich ging der Unbekannte in die Küche, griff sich einen Pappteller und klaubte eine Reihe von Teilchen vom Buffet. Andere Gäste sahen sich ratlos an. Sie tuschelten. Wer mochte er sein? Seine Blicke wanderten darüber, während er eins in der Hand hielt. Er kräuselte die Stirn. Es waren Teigtaschen, kringelig aufgerollt. Aus einigen wölbten sich Pilze, aus anderen körniger Frischkäse und Schinken. Feingehackter Dill war darüber gestreuselt. „Das sind ukrainische Teigtaschen aus der Gegend jenseits der Karpaten“, klärte ihn Ada auf. Die Gastgeberin. „Die einem unglaublich tollen Kochbuch entlehnt, ,Summer kitchens‘ von Olia Hercules. Zu Ehren der Geflüchteten, die der völkerrechtswidrige Angriffskrieg Putins vertrieben hat. Olia Hercules hat eine Hilfsaktion gestartet, die sich #CookForUkraine nennt, Spenden sammelt. Sie ermuntert aber auch, die Kultur des Landes einzutauchen und sich damit zu befassen.“ „Aha. Redest Du immer so viel?“ „Hey, Du bist hier einfach reingeplatzt. Wer bist Du eigentlich?“
Er schwieg kurz. Sagte dann: „Gefällt mir aber. Erinnern entfernt an gebratene Maultaschen. Oder Pfannkuchen. Oder Pizzaschiffchen. Aber mal was anderes. Nicht immer Nudelsalat, Fladenbrot mit Hummus, Käse-Trauben-Spieße, Frikadellen.“ Seine Stimme war dünn wie zu kurz gezogener Tee, erinnere ich mich. Ada lächelte verlegen, sagte: „Da ist Kefir mit drin. Eigentlich sind diese Teigtaschen vor allem in Belarus berühmt. ,Kalduny‘ heißen sie da. Das heißt auch Zauberer. Ich mag Zauber. Theo hat sich mal anderes Fingerfood gewünscht. Und die hier sind total schnell gemacht, fast wie Pfannkuchen.“ Er fragte nicht, wer Theo war. Sagte nur: „Ach.“ Ada zündete sich eine Zigarette an, blies eine Rauchwolke zur Decke und zog Kringel durch die Luft hinter sich her, während sie zum Balkon ging. Der Unbekannte nahm Teilchen-Nachschlag.

Dann kleckste der Unbekannte sich etwas Joghurt auf die Teigtaschen. Plötzlich blickte er mich an, kam herüber. Er begann, unvermittelt zu erzählen, übersprang das Kennenlernprozedere, kein wieheißtduwasmachstduwokommstduherstudierstduauchundwasliestdugerne. Er erzählte. Er sammle leidenschaftlich, sagte er. Herumliegende Dinge, die er auf der Straße fände. Oder in Gebüschen am Gehsteigrand. Kassenbons und Studiennotizen und abgebrochene Stöckelschuhabsätze. Er zeigte auf die funkelnde Kette um seinen Hals: Die winzigen Scherben habe er aus einem zersplitterten Autofenster gesammelt, sagte er. „Verbundglas. Zerfällt in Millionen Teile, wenn es kracht“, sagte er. „Und jedes Teil funkelt. Für mich sind das Großstadtdiamanten“, sagte er und fügte an, selbst in einer leeren Cola-Dose stecke Poesie.
Er habe einen Schuppen im Schrebergarten, oben im Schatten der Mülldeponie, sagte er. Dort habe er eine große Vitrine gebastelt, sagte er, erinnere ich mich. Darin habe er auch eine Reihe benutzter Spritzen aufgestellt, die direkt Gitterzaun hinter dem Spielplatz am Kösliner Ring gelegen hätten. Daneben hätten Kinder gespielt. Und eins habe gesagt: „Guck mal, wir haben ein riesiges Loch gebuddelt.“ Und da habe er gestaunt, denn es sei ein sehr großes Loch gewesen. Gerne hätte er es mitgenommen. Aber es sei kein Platz in seiner Wohnung für ein Sandkastenloch gewesen.
Und wenn er etwas nicht mit zum Schuppen nehmen konnte, habe er sich davorgekniet, es fotografiert und die Aufnahmen liebevoll in Fotoalben geklebt. Eine Wasserwaage benutze er dafür sogar, sagte er, erinnere ich mich. „Man solle Fotos nie schief einkleben. Auch Fotos muss man mit Respekt behandeln.“
Er schob ein letztes Teigteilchen in den Mund, Dill-Fitzelchen aus seinem fusseligen Bart leckend. Er erzählte, er sei ein Archäologe der Gegenwart, lachte darüber und schnippte Asche in den nun leeren Plastikbecher. „Findest Du das seltsam?“, fragte er. Fast flüsternd.
„Ich mag so etwas“, entgegnete ich und dann lächelte ich. „Das ist selten“, sagte er und erhob seine Hand wie zum Gruße, erinnere ich mich, ehe er sich umdrehte und verschwand, ohne sich von mir und den restlichen Gästen zu verabschieden. Still. Fast unhörbar schloss er die Tür. Erst als er fort war, fiel mir ein, dass er mir seinen Namen gar nicht verraten hatte, erinnere ich mich. Und staunend musste ich feststellen, dass auch kein anderer der Gäste ihn wusste. Niemand hatte ihn zuvor gesehen. Doch womöglich ist auch dieser Abend nun Teil seiner Sammlung.
So bereitet man die tollen Teigschnecken zu

Olia Hercules selbst verrät in ihrem Gericht nur das Rezept für die „Transkarpatischen Teigteilchen mit Pilzen“. Das habe ich, eher un-ukrainisch, mit etwas Parmesan und geriebener Zitronenschale ergänzt. Ich selbst, auch in Erinnerung an einen Aufenthalt in Belarus im Alter von 14, habe sie dort auch mit Frischkäse und Schinken kennengelernt. Beide Varianten, zart anverwandelt, gibt es hier und heute. Als dritte schmackhafte Alternative bietet sich auch die Tomaten-Bärlauch-Parmesan-Konfitüre an.
Schritt 1: Teig
Grundrezept für je etwa zehn Teilchen. Wer beide Varianten oder gar alle drei machen möchte, braucht natürlich ein entsprechendes Vielfaches an Teig. Nur um rechtzeitig drauf hinzuweisen.
125 Milliliter Kefir
1 Ei
1 Teelöffel Salz
1 Teelöffel Zucker oder Honig
1/2 Teelöffel Natron
250 Gramm Mehl, plus etwas mehr zum Bestäuben
- Eine große Rührschüssel auf die Arbeitsplatte stellen. Kefir hineingießen. Das Ei aufschlagen und dazugeben, ebenso wie Salz und Zucker oder Honig sowie das Natron. Mit einem Holzlöffel mit schnellen Schlägen rühren, bis die Masse glatt ist.
- Das Mehl unter ständigem Rühren nach und nach zur Masse geben.
- Dann die Hände sowie ein Brett etwas bemehlen und beherzt hineingreifen, um den Teig herauszuheben, aufs Brett zu legen und per Hand fertig zu kneten, für ein paar Minuten, bis er geschmeidig ist. Danach ein paar Minuten ruhen lassen.

Schritt 2: Füllung
Pilzfüllung
15 Gramm getrocknete Wildpilze (optional, vor der Zubereitung für eine halbe Stunde in warmem Wasser ziehen lassen, das Wasser danach abgießen)
250 Gramm braune Champignons
1 Zwiebel
1 Handvoll fein gehackten frischen Dill
2 Esslöffel frische Frühlingszwiebeln
2 Esslöffel geriebenen Parmesan
Abgeriebene Schale von 1/2 Zitrone
1/2 Teelöffel Salz
1 große Prise Pfeffer
1/2 Teelöffel Zucker
2 Esslöffel Öl oder Butter
- Vorarbeiten: Zwiebeln in feine Würfel schneiden, Champignons putzen und ebenfalls in feine Würfel schneiden (lässt sich dann leichter aufrollen), die Frühlingszwiebeln in feine Ringe schneiden (holzige Außenblätter, falls vorhanden, vorher abziehen) auch den Dill feinhacken und den Parmesan sowie die Zitronenschale reiben.
Falls wer hat und möchte: Wie oben beschrieben, getrocknete Pilze eine halbe Stunde vor dem eigentlichen Kochen mit heißem oder warmem Wasser übergießen und ziehen lassen. Den Pilzsud danach weggießen. - 2 Esslöffel Öl (oder aktuell auch gern Butter, man kriegt ja nirgends mehr Öl) in einer Pfanne auf niedriger Flamme erhitzen.
- Die Zwiebeln hineingeben, den Zucker darüberstreuseln und etwa 5-10 Minuten golden karamellisieren. Dann die Pilze hinzugeben und mit anbraten, weitere 5-10 Minuten lang. Mit einer Prise Salz würzen, vielleicht 1/2 Teelöffel. Dann die Frühlingszwiebeln noch kurz mitschwitzen. Nach dem Schmurgeln den Dill darüberstreuen.

Frischkäse-Schinken-Füllung
250 Gramm Tvorog oder anderen körnigen Frischkäse
2-3 Scheiben Kochschinken (bevorzugt, egal wie un-ukrainisch: Prosciutto Cotto)
2 Esslöffel Parmesan
1 Esslöffel Milch
Abgeriebene Schale von 1/2 Zitrone
1 Handvoll feingehackten, frischen Dill
1/2 Teelöffel Salz
1/2 Teelöffel Zucker
1 große Prise Pfeffer
- Kochschinken in kleine Streifen oder sonstwie klitzeklein schneiden. Ansonsten: alle Zutaten in einer Schüssel vermengen und kräftig durchrühren.

Schritt 3: Die Hochzeit und die Zubereitung
Nun geht es darum, den Teig und die Füllung zu verbinden, im Autobau nennt man das bei Unterbau und Karosserie ja Hochzeit. Und darum, das Ganze dann auch zum köstlichen Finale zu bringen.

- Das Brett noch einmal kräftig bemehlen und den Teig darauf mit einem Nudelholz oder einer leeren Weinflasche oder mit was auch immer ihr so nehmt zum Plattrollen dünn ausrollen, in etwa in ein Rechteck, das grob so groß ist wie ein DIN-A4-Blatt.
- Die jeweilige Füllung der Länge (also längeren Seite) nach auf eine Hälfte der Teigfläche streichen. Dann das Ganze dann entlang der Breite (oder kürzeren Seite) vorsichtig aufrollen.



- Danach die aufgerollte Teigwurst mit einem Messer in etwa zwei Zentimeter breite Streifen schneiden. Die Unter- und Oberseite der Scheiben etwas zusammendrücken (sonst fliegt Euch die ganze Füllung raus in die Pfanne).
- Öl oder Butter bei niedriger Hitze in einer Pfanne erhitzen und die Teile von beiden Seiten sanft anbraten, bis sie von allen Seiten goldbraun sind. Fertig.


Musik zum Menü
Was wären gute Partys ohne wild umhergeschwungene Haare und übersprudelndes Glück beim Tanz, beschwingt mit Drinks, entfesselt, ungezähmt, ohne verrücktes Vergnügen und wundersame Wendungen? Womöglich nicht so gute Partys, wie sie hätten sein können. Und genau da kommen mehrfach passend The Ukrainians zum Zuge – haben sie doch eine in jeder Form mitreißende ukrainische Coverversion eines der ganz großen Klassiker der Indierock-Geschichte, „Bigmouth strikes again“ von den Smiths, hingelegt. Ein Juwel, das deutlich mehr Ohren zu Gehör zu kommen und deutlich mehr Menschen in die Beine zu fahren verdient hat.
Wenn Schweiß perlt, Körper umeinander toben, Menschenmassen lauthals singend beben und ausrasten: Dann ist das etwas, das besonders auf Konzerten von „Kaizers Orchestra“ häufig zu bestaunen war und ist. Und ganz besonders, je weiter „Resistansen“ seinem fulminant wilder werdenden Berserker-Schlusschorus entgegen braust.
Mit Blick auf den Krieg kann man sich immer noch fragen, wie konnte es nur dazu kommen. Und wo das famose Album „Original Pirate Material“ von The Streets gerade 20 Jahre alt geworden ist, passt hier für die schon etwas enger umschlungenen späteren Stunden einer Party auch „Has it come to this?“
Was für eine seltsam schöne Geschichte, lieber Ole … Ich hab sie gern gelesen! Ein paar deiner Kolduny dazu und das Lesevergnügen wäre perfekt gewesen 🙂
Alles Liebe!
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