
„’cause this, you know, this is forever“
(At the Drive-In, Napoleon Solo)
Damals, vor 30 Jahren, als sich die Türen erstmals öffneten, wusste ich noch nicht einmal, dass es sie gab. Ahnte nicht, dass die Räume, in die sie bis heute führen, über Jahre zu meinem Wochenend-Wohnzimmer werden sollten. Gute zehn Kilometer südlich meines Elternhauses eröffneten Gerda und Willi damals die kleine Dorfdiskothek „Limit“. Ich war zwölf, begann gerade meine Leidenschaft fürs Schlagzeugspiel zu entdecken, hatte bei Hannes, dem ein oder zwei Jahre älteren Sohn von Freunden meiner Eltern erstmals „Nevermind“ von Nirvana gehört, im Obergeschoss einer alten Villa. Auch „Ten“ von Pearl Jam, und der Rotz und die Wucht und das Ungeschmirgelte schlug mich in Bann. Doch ich war noch klein, gerade erst seit wenigen Wochen aufs Gymnasium gewechselt, zu jung, um auch nur daran zu denken, mir in einer kleinen Dorfdisco die Nächte um die Ohren zu schlagen, mir Schweißperlen auf der überfüllten, vielleicht 20 Quadratmeter großen Tanzfläche von der Stirn zu streichen. Im Bauch der Disco, in der man Charly meterweise bestellen konnte. Zum Spottpreis. Charly, ein Gesöff, das eigentlich nur aus Cola und Weinbrand besteht, von dem genauso wenig Leute wissen, warum es so heißt: Offenbar, weil man im Anfang oft Scharlachberg in die Mische kippte und gelallt aus Scharlachberg dann Scharli wurde.
Das „Limit“ war der Ort, an dem Grunge und Metal, Indie, Hiphop, Elektro und all die Spielarten drumherum abseits ausgelutschter Mainstream-Pfade ihren Ort fanden. Wo Pottschnitthaare tief in die Stirn hingen, wo sich karierte Flanellhemden dichter drängten als woanders. Ein Kleinod, das für mich und viele Jugendliche vor und nach mir prägend wurde. Ein weiß geklinkertes Haus mit von innen mit Holz vertäfeltem Erker, nebenan irgendwann mit Tanke, wenige Hundert Meter entfernt: Weiden, Kühe, überwölbt vom Nachthimmel, die Bahnlinie nach Münster, etwas weiter: eine Müllhalde, dahinter: meine Heimatstadt. Es war der Ort, an dem man zuhause war, denn alle Freunde waren auch da, zumindest die meisten. Der Ort, an dem wir aufregend neue Bands entdeckten, die man andernorts nicht zu hören bekam, und die uns fortan auch wie Freunde begleiten sollten: At the Drive-in und Jimmy Eat World, Muse, dEUS, Tool, Queens of the Stone Age, Kettcar, Deichkind, unzählige mehr. Ein Ort, der musikalisch wilder und rauer, zugleich aber auch zarter und poetischer war als viele andere, menschlich zudem herzlicher und friedlicher. Wo man umso leidenschaftlicher tanzte und feierte, dafür aber weit weniger Fäuste flogen und Kiefer zertrümmert wurden als in den chartlastigen Großraumtempeln ringsum. Wohin Leute aus dem Umkreis von 50 Kilometern extra anreisten, um da tanzen und besonders gute Musik zu hören und zu außergewöhnlich fairen Preisen ihr Taschengeld in flüssiges und tanzbares Glück umsetzten. Wohin selbst heute noch dort Großgewordene teilweise aus allen Ecken Deutschlands zurückkehren, um da nochmal zu feiern. Aus dem Ruhrpott etwa.
Wo Kickerkugeln gegen den Beat aus den Boxen klackerten. Wo Henk, der spätere Eigentümer, schonmal Minderjährige, die zum Mitfeiern gekommen waren, nach Mitternacht wie Büchsensardinen in einen Lagerraum stopfte und sie dort versteckte, wenn in seltenen Fällen mal die Polizei kam, um zu kontrollieren, wer da ist und wie alt die denn alle so sein mochten. Und wie oft wir da unsere heimlichen Schwärme getroffen haben und wie oft wir dann doch nicht übers Herz gebracht haben, ihnen zu sagen, dass wir sie toll finden, da half dann auch das Bier dem Mut nicht immer über die Türschwelle. Da, an dem Ort, wo in einem Gewerbegebiet am Rande des kleinen Dorfes Ihrhove in Ostfriesland auf dem Parkplatz hinterm Haus kleine Teenies herzklopfend Feuerzeuge zückten und heimlich zum ersten Mal rauchten und wo in quietschend wackelnden uralten Kombis im Kofferraum oder irgendwelchen Gebüschen umher auch schonmal eine Unschuld glutvoll flöten ging. Und vielleicht knurrte Trent Reznor von Nine Inch Nails zufällig gerade zeitgleich im Inneren „I want to fuck you like an animal“ aus den Boxen. Es war der Ort, wo im Sommer über Jahre legendäre, drastisch überfüllte „School’s out“-Partys gefeiert wurden, teils mit Livebands. Wo auch sonst immer mal wieder kleine Konzerte die Wände wackeln und das Publikum ausrasten ließen: Nicht zuletzt „Station 17“ aus Hamburg. Ohne Regen kein Regenbogen.

Ein Ort, der dank des vor elf Jahren für den Deutschen Buchpreis nominierten Romans „Gegen die Welt“ von Jan Brandt auch literarisch sehr umfassend gewürdigt wurde und zuvor auch schon in „Ich muss hier raus – Aufwachsen in der Provinz“ von Kolja Mensing in einem Roman auftauchte. Bis heute ist das „Limit“, das sich seit Jahren völlig zurecht „Lieblingsdorfdisko“ nennt, ein Ort, der es geschafft hat, mit der Zeit zu gehen und sich zu entwickeln, und der sich doch im Herzen treu geblieben ist. Der die Zeiten überdauert hat, ohne gestrig zu werden, und das, obwohl mit der regionalen DJ-Legende Marco Hanneken ein mitfiebernder Glatzkopf seit 23 Jahren am Mischpult steht: CDs sind aus der Mode gekommen, Marco ist geblieben. Es ist auch ein Ort, der entgegen vieler anderer Discos oft politisch Stellung bezogen hat: für Menschenfreundlichkeit, gegen Hass. Und es ist ein Ort, der nicht zuletzt durch überbordend gewitzte Livestreams und andere Aktionen all denen, die ihn liebten, trotz räumlicher Trennung sogar noch enger ans Herz gewachsen ist.
Das „Limit“ ist ein Ort, an dem ich lange jung war, wie so viele von uns. Nimmt man an, dass eine Disco-Jugend 5 bis 7 Jahre dauert, ehe man zum Studium woandershin zieht, dann sind vier bis sechs Generationen von Jugendlichen im „Limit“ groß geworden. Auch wenn es für die früher jung Gewesenen auch ein Ort sein konnte, an dem man sich plötzlich alt fühlte. Nach dem Studium dorthin zurückgekehrt, ploppte plötzlich der Gedanke auf: „Oh Kacke, ich bin ja doppelt so alt wie manche der anderen.“ Später auch, dass ich deren Vater sein könnte. Und irgendwann, ich sagte zu meinem damaligen Kumpel Jan: „Holst Du Getränke? Ich geh mal kurz auf Klo“, da kam ein vielleicht 15-Jähriger, sehr höflich und freundlich. Und der sagte: „Falls Sie das nicht wissen, die Toilette ist da drüben.“ Am Ort des eigenen gefühlten Jungseins gesiezt werden: Selten sind selbst eingeflüsterte Illusionen herber zersplittert. Und was antwortet man? „Ich war da schon auf Klo, da warst Du noch gar nicht geboren“? Offener hätte man den Offenbarungseid der verschwundenen eigenen Jugend nicht leisten können. Und doch ist man so jung, wie man sich fühlt, und das „Limit“ Ort geblieben, wo jeder, der mag, sich jung fühlen kann, an seine Jugend erinnern, an all die kleinen oder großen Geschichten und Dramen, die einem bierselig begegnet sind. Und weil tanzen hungrig macht und weil sieben Bier zwar eine Mahlzeit sind, die allein aber auch nicht ausreicht, haben wir immer wieder im kleinen Erker der Disco eins der legendären „Limit-Baguettes“ geordert. Mit Brötchen, die eine kleine Bäckerei vier Dörfer weiter, extra dafür gebacken hat und backt. Im Tanztempel kross geröstet. Dazwischen je nach Neigung Salami oder Schinken, vielleicht auch Schafskäse, geschmolzener Gouda, Remoulade. „Und ganz viel Liebe, die ist das Geheimnis“, sagt Karin Kerkhoff, die Mensch gewordenes Inventar, Disco-Legende und seit Jahren Betreiberin ist.

Keine Ahnung, wie viele dieser Baguettes wir in all den Jahren verschlungen haben, ob mit Liebeskummer-Kloß im Hals oder tanzglückselig. Keine Ahnung, wie das genaue Rezept funktioniert. Man nehme ein Baguette, bevorzugt ein Gutes, schmiere ein wenig Butter auf die Seiten, damit die Krume innen nicht trocken wird, belege das Ganze mit Wurst oder Schinken, mit Käse, schiebe es in den Ofen, bis es knusprig ist ohne zu verbrennen, schmiere am Ende ein wenig Mayo drauf, belege das Ganze vorm Zuklappen noch mit frischen Gurken und frischem Salat, Eisberg etwa. Ihr kennt das. Nichts besonderes? Mag man so sehen. Aber gerade an besonderen Orten, da, wo das Erleben ganz besonders war und die eigenen Erinnerungen ganz besonders lebhaft wiederkehren, braucht es nichts Außergewöhnliches, um trotzdem außergewöhnlich zu sein. Happy birthday, Lieblingsdorfdisko!
Musik zur Lobhudelei
Hier reichen keine zwei, drei vier Lieder. Und so habe ich eine geplant kleine, aber groß gewordene Playlist mit sehr vielem zusammengestellt, das ich im „Limit“ gehört, geliebt, gefeiert, zu dem ich getanzt habe. Viel Spaß. Das reicht für mehr als einen Abend.
Oh, gibt nichts zu essen heute (das Baguette lasse ich weg, da eine Tüte Chips vermutlich denselben Zweck perfekt erfüllt hätte)?
Ich wäre gern dort gewesen, auch wenn ich deiner Musik nach ein paar Jahre früher dran gewesen sein müsste. Deine Worte berühren mich, und das ist vielleicht das größere Kompliment als eines für die Kochkunst.
LikeGefällt 1 Person
Danke!!!
Ich bin bei allem ja auch ein vielleicht eher mäßig kunstvoller (wenngleich gewitzter) Koch. 🙂
Freut mich sehr, dass die Worte berühren, so sehr das jetzt ja ein Special-Interest-Text ist, der in vielen Details mutmaßlich vor allem die erreicht, die den Laden aus eigenem Erleben kennen.
Was früher dran betrifft: Ich war 12, der Laden ist 30 geworden. Ich bin 42. 🙂
LikeLike
Den Laden kenne ich nicht, aber einen anderen, der für mich ähnlich heimatlich war.
LikeGefällt 1 Person
Das hätte mich auch gewundert. Aber schön, wenn der Text trotzdem Erinnerungen weckt. Und heimatliche Läden sind wundervoll. Wo war Deiner? 🙂
LikeLike
Wie sich doch die Orte und Ereignisse doppeln….bei mir hieß der Laden Poco, war an der Bahnlinie nach Siegen, es gab das Poco-Baguette und ich habe dort jahrelang wie viele andere Leute aus der Gegend um Wetzlar mein Wohnzimmer gehabt. Leider hat der Laden schließen müssen und wurde dem Erdboden gleichgemacht…..
LikeGefällt 1 Person
Witzig. Und schön, wenn es so Gutes an verschiedenen Orten gibt. 🙂 Aber: Bitter, wenn so Tolles geht, zermalmt wird sogar. Ich hoffe sehr, das Limit übersteht die Zeiten noch lange. So viel schwieriger das in den vergangenen Jahren geworden ist, gerade in der Provinz, gerade wenn man mit Herzblut Dinge für die alternative Rockjugend macht.
LikeLike
Du hast das Lebensgefühl da perfekt getroffen! Danke für die Erinnerungen!
LikeGefällt 1 Person
Das freut und ehrt mich sehr, danke!
LikeLike
Meine Lokation war seinerzeit (1970-1977) Meta in Norddeich. Wenn man bedenkt, wie Meta allein in diesen sieben Jahren stilbildend und prägend für die ostfriesische Musikkultur gewesen ist, kann das dreissigjährige Wirken des Limits nicht hoch genug wertgeschätzt werden! Vielen Dank für deinen lesenswerten Blogbeitrag
LikeGefällt 1 Person
Danke umgekehrt für die lieben Worte. Für Meta in der legendären Form bin ich zu spät geboren worden. Deutlich. Aber ich kann Dir nur zustimmen. Schönen Feiertag!
LikeLike
Ach ja … Nirvana und Pearl Jam … Was warst du für ein Wilder!!!
Nur gut, dass es damals Corona noch nicht gab ;-)))
Alles Liebe!
LikeGefällt 1 Person
Nicht nur war. 😉 Ich mag es bis heute wild 🙂 Und ja! Alles Liebe zurück!
LikeLike
Orte wie dieser von Dir hier beschriebene sollten zum Weltkulturerbe erklärt werden …
Ein wunderbarer Beitrag, der neugierig auf diese kleine Disko mit der magischen Mucke in Ostfriesland macht. Danke schön dafür und ich schließe mich unbekannterweise den Glückwünschen an:
Lang soll das Limit leben❣️🥳Liebe Grüße Amélie
LikeLike
Ha, das kommt mir unheimlich bekannt vor! Nur das es bei uns La Flute gab – auch so ein Dorf(Insel-)diskoklassiker!!!
LikeLike