
Jetzt, wo der Herbstwind bissiger wird und unbeherrschter tobt, als habe er sich den Sommer über im Keller heimlich Wodka angesetzt und kräftig Mut angetrunken, biegt sich draußen am Dollart der Schilf. Böen bauschen die Halme, zerren sie von links nach rechts, schütteln sie, bis ihnen schwindelig wird. Als wollten sie Geständnisse aus ihnen herauspressen oder ihnen mal zeigen, wo auf dem Jahrmarkt der Hammer hängt. Da, am Dollart, dieser kleinen Meeresbucht in der Emsmündung, wo im Hinterland Abertausende Gänse die Wiesen zerknabbern und sich die Bäuche vollschlagen, bevor sie in südlichere Gefilde ziehen. Wild föhnt der Herbstwind die Locken aus den Fellen der Schafe auf dem Deich. Und wer sich draußen an der Schilfkante unterm Vogelausguck hinsetzt, bringt sich inzwischen wieder heißen Tee mit, wirft sich vielleicht auch einen Schal um und zieht ihn tief ins Gesicht. Aus Nordwest segeln Blätter, wuchtig von den Bäumen gerupft, den Gänsen entgegen, und in den Häusern drehen die Leute zaghaft ihre Heizungen hoch. Wissend, dass das in diesem Winter nicht die schlaueste Idee ist, dass es umso teurer ist, Gas aber auch umso knapper. Aber frieren mag ja auch niemand. Wer aber Wärmendes im Bauch hat, etwas, das die Seele tröstet und den Leib in Wohlgefühl taucht, friert weniger. Und wer knapp hinterm Deich lebt und – vielleicht vom Wetter gegerbt, vom Sturm gekrümmt – bei Ebbe mit dem Schlickschlitten rausgerutscht ist, um zu schauen, was für Fische sich in den Reusen verheddert haben, der sehnt sich nach genau solchem Wohlfühlessen. Eins der wundervollsten, die meine ostfriesische Heimat da bietet: „Insett Bohnen“, ein Eintopf aus „Schnippelbohnen“, Kartoffeln oder Kartoffelbrei, Bauchspeck oder Kassler und Kochmettwürsten, das aber nicht selten mit Apfelmus serviert wird.
Als Kind und auch als Jugendlicher habe ich vieles an diesem Gericht nicht verstanden. Wieso man nun milchsauer vergorene, in Salzlake eingelegte Bohnen nimmt statt frische grüne Bohnen einzukochen, etwa. Und wie zur Hölle denn irgendwer darauf gekommen sein mag, zu einem mächtigen, würzigen Eintopf ausgerechnet Apfelmus zu servieren. Süßsaures zur salzigen Deftigkeit, die pfeffergeschärft von den Tellern dampft? Vielleicht sogar noch von etwas Chili befeuert? Ich habe mich am Kinn gekratzt, aber ich habe auch lange nicht verstanden. Denn in der so scheinbar schlichten rustikalen Hausmannskost steckt bei genauerem Hinsehen ganz schön viel Aromen-Raffinesse. In Westfalen und dem Rheinland verbinden sich Äpfel und Erdäpfel, Fruchtsüßsäure und Deftiges ja auch durchaus, etwa in „Himmel un Ääd“. Nur dass es da um die Blutwurst geht.

Frisch gab es grüne Bohnen früher in Ostfriesland, insbesondere bevor Stromkabel an Holzmasten übers Land baumelten und Kühlschränke einzogen, oft nur im Sommer, vielleicht von kargen Mooräckern gepflückt, vielleicht in den Gemüsegärten der Polderfürsten auf ihren Gulfhöfen gezogen. Aber in den Katen gab es keinen Strom, keinen Keller, überhaupt kaum Raum. Und um die knappe Ernte trotzdem möglichst lang nutzen und sich davon ernähren zu können, wurden die Bohnen kleingeschnitten, mit Salz gemischt, ein Pfund Salz auf zehn Pfund Bohnen sagen die einen, eins auf drei sagen andere, 20 Gramm Salz auf ein Kilo sagt die Kochbuchautorin Antje de Vries in ihrem preisgekrönten Werk „Fermentieren“, und so lange mit gestampft, bis die Flüssigkeit aus den Bohnen trat. Mitunter gab man noch etwas Molke zu, um die milchsaure Verwandlung zu beschleunigen. Dann wurde das ganze mit einem Leinentuch überspannt, mit einem Brett bedeckt, und das wiederum mit Steinen beschwert. So reiften und fermentierten die Bohnen vor sich hin. Und was vor allem dem Haltbarmachen galt, sorgte zugleich aber auch dafür, dass sich neue, viel tiefere Aromen bildeten, die grün-harmlose Knackigkeit sich in komplexes, mildsäuerliches Schillern verwandelte.
Und hier, in diesem Gericht, preschen Kochmettwürste, Kassler und/oder Bauchspeck mit ihrer fetten Würze voran, entfalten die ebenfalls salzigen, zartsäuerlichen Bohnen ihren breiten Aromenfächer, Pfeffer undoder Chili zündeln im Unterholz, sanft karamellisierte Zwiebeln blicken süßlich dem Abendrot entgegen, während der Kartoffelbrei die etwas wild gewordenen Gockel mit seiner Seelenruhe zähmt und der Apfelmus, der ein wenig wirkt, als hätte er sich in diese verwegene Gegend verlaufen, ergänzt das Zusammenspiel von süß, salzig, sauer, scharf, das im Einklang für mich das perfekt austarierte Gericht ergibt, famos. Hier vermählen sich diese Gegensätze – und auch der von heiß (Eintopf) und kalt (Apfelmus) bringt spannende Kontraste. Längst nicht jeder hier oben serviert Apfelmus dazu, und es schmeckt auch ohne köstlich. Und doch ist genau Apfelmus in meinen Augen das Detail, das das Gericht von einem guten, ordentlichen Eintopf zu einem wirklich besonderen Gericht erhebt.
Lange Zeit waren breiige Suppen und Eintöpfe, deren Zubereitung sich seit dem Mittelalter kaum verändert hat, die Hauptmahlzeiten, schon weil man meist nur eine offene Feuerstelle hatte. „Rebbedi“ oder „Laiwievenstipp“, Mehldick mit Zuckerrübensirup, etwa. Oder „Peter in de Büx“, „Speckfetten grau Arten“, „Pirrel in de püüt“ (ein Kloß aus Biestmilchbrei, Mehl und Milch, im Leinensack gegart), mitunter auch mit „Peern“, also Birnen, gegessen. Stangenöfen kamen erst spät. Und weil es eben kaum Kühlmöglichkeiten gab, aß man in Ostfriesland vor allem Hülsenfrüchte, allen voran Bohnen, die auch gern als „updrögt Bohnen“ auf Schnüre gefädelt im Herbstwind trockneten, ehe man sie irgendwann abfädelte und in Töpfen zerkochte. Wenn nicht gerade Spätherbst oder Winter war und das eine Schwein oder Rind, das man hielt, geschlachtet wurde, gab es in meinem armen Heimatlandstrich auch eher kein Fleisch. Das hat im letzten Jahrhundert aber doch und auf sehr deftige Weise Einzug gehalten.



Da der Herbst ja schon gekommen ist und die Zeit für fermentierische Abenteuer ja gern auch rar ist (und das Ganze ja Zeit braucht – und sei es zum Reifen): Man kann die milchsauer vergorenen Schnippelbohnen auch fertig kaufen. So halte ich es zumeist. Unbezahlte Werbung aus Überzeugung: Ich nehme meist die „feinsten Salz-Schneidebohnen“ von Leuchtenberg, die sich außerhalb Ostfrieslands auch über den Online-Handel beziehen lassen, so man sie im Laden vor Ort nicht findet.
Schwingt Euch an Eure Feuerstellen, befüllt Eure Dutch Oven oder Henkelpötte, gönnt Euch dieses besondere Gericht (das auch vegetarisch übrigens wundervoll schmeckt, mit gut gewürzten Pilzen statt des Wurst- und Fleischbergs) und kommt gut in den Herbst!

Zutaten für die „Insett Bohnen“
1 Kilo Schnippelbohnen (2 Packungen fertige Salz-Schneidebohnen etwa)
750 Gramm Kartoffeln, geschält, klein gewürfelt
3 große Zwiebeln, geschält, fein gehackt
500 Gramm Kochschinken am Stück oder Kassler, grob gewürfelt
250 Gramm Bauchspeck, die harte Kruste samt Fettsaum weggeschnitten, fein gewürfelt (alternativ fertige Schinkenwürfel)
8 Kochmettwürste
1/2 Liter Wasser
250 Milliliter Milch
125 Gramm Butter plus mehr zum Anbraten
Salz
Pfeffer
Chiliflocken (optional)
1 Glas Apfelmus (gern auch selbst gekocht, ein Rezept hierfür spar ich mir bis auf Widerspruch)
So bereitet man die „Insett Bohnen“ zu
Die Bohnen in reichlich Wasser eine halbe Stunde ziehen lassen, einmal aufkochen, Wasser abgießen.
Die Zwiebelwürfel in etwas Butter sehr sanft anschwitzen, bis sie weich und golden sind. Dann den Bauchspeck oder die Schinkenwürfel dazu geben und etwas aufknuspern.
Die Bohnen dazugeben, kurz mitschwitzen, dann mit dem Wasser aufgießen. Aufkochen lassen, dann bei sanftem Köcheln auf niedriger Stufe weitergaren. Den Kassler und die Wurst dazugeben, etwa eine dreiviertel Stunde lang köcheln lassen.
In der Frage, ob man die Kartoffeln nun im Topf mitkocht und später alles gemeinsam zu Brei stampft, oder sie separat in Salzwasser kocht, mit Milch und Butter aufgießt, zu Kartoffelbrei stampft und dann dem Rest hinzufügt, gibt es konträre Meinungen, auch in der Familie. Ich bin klar für Kartoffelbrei separat kochen. Auch weil das das Säuerliche der Bohnen noch etwas abmildert, und weil die Bohnen mehr Struktur und Biss behalten.
Heißt: Kartoffeln im Salzwasser gar kochen (Ihr wisst, wie man das macht), dann das Wasser abgießen, mit der Milch ablöschen, Butter dazu, dann stampfen oder mit dem Pürierstab in Brei verwandeln.
Wenn die Bohnen gar sind, die Würste rausnehmen, den Kartoffelbrei unterheben und gut verrühren, eventuell mit etwas Salz abschmecken, was in der Regel aber nicht nötig ist, weil Bohnen und Fleisch und Wurst schon von Haus aus viel Salz und Würze mitbringen, wohl aber mit nem guten Teelöffel Chiliflocken und oder mehreren Zugvogelflügen mit der Pfeffermühle überm Gericht dem ganzen bekömmliche Schärfe verleihen. Zum Servieren die Würste wieder hinzugeben. Das Ganze dann mit Apfelmus servieren.


Musik zum Menü
Der Herbst und „O“, das fantastische Debütalbum von Damien Rice, sind für mich seit genau zwei Jahrzehnten untrennbar verbunden. Das zartpoetische Schwelgen, die glutvollen Ausbrüche… für mich eins der besten Singer-/Songwriter-Alben aller Zeiten.
Ebenfalls seit vielen Jahren einer DER Songs für mich, wenn es in den Herbst geht: „Perth“ vom famosen Bon Iver.
Für mich auch immer ganz weit vorn, weil wahnsinnig rau, poetisch und intensiv, gerade im Herbst: Norwegens bester Song des vergangenen Jahrhunderts… „Vortex surfer“ von Motorpsycho.
Und weil gerade im Herbst einander nah sein, sich wärmen, gemeinsam Stürmen entgegenblicken oder sich vor ihnen wegkauern besonders schön ist, und weil auch das hier ein grandioser Song eines ebensolchen Albums ist: „Your hand in mine“ von Explosions in the sky.
Lieber Ole,
auch ich kenne dieses köstliche Bohnen-Eintopf-Gericht, das zu meinen Lieblingseintöpfen zählt…
Bei uns heißt es schlicht „Fassbohnen“, weil die Bohnen wie Sauerkraut in einem Fass gestampft und vergoren werden. Bei uns kommen dicke Kasseler Rippe und Rauchendchen in den Eintopf. Und Zwiebeln. Die Kartoffeln sind mehlig und zerfallen während des Kochens, das Fleisch wird butterweich gegart. Mit Apfelmus in Kombi kenne ich die Fassbohnen (noch) nicht. Das werde ich probieren. Ich liebe schwarzen Pfeffer als Schärfe sehr – nun werde ich auch mal Chili testen. Lieben Dank Dir für den wieder sehr lesenswerten Beitrag und das Ostfrieslandwissen. Sauge ich auf wie ein Schwamm. 🙂
Hab es gut und viele liebe Grüße aus dem wildromantisch vor sich hinherbstelnden Teuto
Amélie 🍂🌲🌳🌲🍁
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Schwarzer Pfeffer allein reicht völlig. Ich mag den zartwilden Chiliknack dennoch sehr gern. Und im Grunde ist unser Rezept ja weitgehend identisch. Rauchendchen und Kochmettwürste sind im Grunde ja nur verschiedene Namen für dasselbe. Und sorry, dass ich zuletzt eher Uboot bin und so lamge zum Antworten brauche. Ich freu mich immer riesig über Deine Worte. Ganz liebe Grüße
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Hallo Ole, ja, das Gericht ist ein richtiger Seelenwärmer in kühlen Zeiten. Apfelmus dazu ist zwar nicht typisch, ist aber ein fruchtiger sehr schmackhafter Gegenpol. Mit Chili verläßt man den traditionellen Boden bei dem Gericht. Ich bleibe der ostfriesischen Version treu.
Liebe Grüße in meine Heimat.
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Ein bisschen Chili für ein klein wenig mehr Knack ist bei allem ja kein Siebenmeilenschritt abseits der Tradition 🙂
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lecker, lecker, lecker, lieber Ole. Wir lieben „Tonnenbohnen mit Mettwurst“ im Rheinland auch. Tonnen- bzw. Salzbohnen gekocht mit Zwiebeln, Kartoffeln, etwas ausgelassenem Speck und Mettwurst. Herrlich, und so einfach und immer lecker.
Liebe Grüße schickt dir Karin
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Das Gericht ist völlig zurecht so beliebt. Ganz liebe Grüße ins Rheinland!
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