
Wo Walter ist, juckt gerade nicht. Aber wo ist Wolfgang? Der Nachbar, dem Du Deine Alu-Trittleiter geliehen hast, öffnet die Tür nicht. Dabei ist die Verkabelung der Flur-Deckenlampe aus der Lüsterklemme gerutscht, und nun bleibt es dunkel. An den Küchenschränken trocknet verspritzter Erdbeerjoghurt an, auf den Stühlen auch. Krümel haben sich zum Geröllfeld unter den Küchenstühlen formiert. Tiefgekühlte Mango vom Einkauf gerade müsste in den Gefrierschrank im Keller gebracht werden. Frühlingszwiebeln und Süßkartoffeln und all die anderen Dinge, die ebenfalls noch in der Einkaufstasche liegen, müssten auch ausgeräumt werden. Aber wann, weil Du gerade anders gefordert bist? Wachsmalstifte und Bauernhoftiere liegen erschöpft kreuz und quer – und im Wohnzimmer ist eine Bombe in die Lego-Eisenbahn eingeschlagen und hat die Teile quer durchs Zimmer katapultiert. Wenn ich mich durch andere Foodblogs wühle, halte ich immer wieder andächtig inne. Berührt von der Schönheit der Inszenierung, wie raffiniert das alles ins Bild gesetzt ist. Wie aufwändig so manches Gericht zu kochen ist. Wie die Köche und Schreiber dahinter Stunden aufgebracht (und gefunden) zu haben scheinen, um das Ganze vorzubereiten, aufwändig zu kochen, bebildern und aufzubereiten. Das mag man sich bei mir selbst auch manchmal fragen, zugegeben. Und doch frage ich mich immer wieder: Wie und vor allem wann macht Ihr das? Wann findet Ihr Zeit dafür inmitten des Zeit verschlingenden Wirbelsturms namens Alltag?
Wie oft passiert es mir, dass ich vor dem Homeoffice kurz in die Küche hetze, im Akkord das Messer schwinge und Dinge zurechtschnitze, die ich in der kurzen Mittagspause in die Pfanne haue, um – dann schon wieder halb oder ganz am Rechner – das Ganze zu vertilgen. Und wie oft passiert es, dass kleinere, sonst zuckersüße Familienmitglieder mittagsmüde plötzlich beschließen, sie wollen jetzt keine Nudeln. Höchstens einen Schokopudding. Und vor allem mit der Eisenbahn spielen. Oder malen. Oder Trecker und Kipplaster aus der Auto-Kiste in den Backofen der Spielküche räumen. Und Du selbst hast aber Hunger und möchtest irgendwie kochen, aber wie? Weil viel Zeit für Handgriffe ist nicht.
Gerade für solche Tage ist die in anderem Kontext hier schonmal vorgestellte legendäre Tomatensauce der italienischen Kochbuchautoren-Legende Marcella Hazan ein Traum, um trotz keiner Zeit noch formidabel zu essen. Sie benötigt nur exakt eine Handvoll Zutaten und Handgriffe – und ein wenig Zeit, in der sie köcheln kann, während man sich aber dem Chaos widmen kann, kleinen Händen, die einen durch die Wohnung ziehen, folgen – oder, wenn einem das Glück hold ist: durchatmen. Ich habe sie an anderer Stelle hier vor gut einem Jahr schonmal vorgestellt, da aber nur als unterstützende Randfigur für köstliche Bärlauch-Ricotta-Gnocchi. Dabei steht ihr die Hauptrolle hervorragend. Und ich habe bei aller Einfachheit des Rezepts kaum je eine bessere, tomatigere, rundere, bessere Tomatensauce gegessen. Als ich ihr erstmals begegnete, war ich skeptisch. Kein frischer Basilikum? Kein Thymian? Kein Knoblauch? Kein Rotwein? Wie einfallsarm und fade mag das schmecken? Aber nix da. Die mit Zeit und Hitze langsam geschmurgelten Tomaten entwickeln eine irre Aromenfülle, vollmundig und satt. Die Zwiebel unterstützt mit süßwürzigen Noten und karamellisiert über die Schmurgeldauer. Das Fett der Butter löst die Aromen. Und so ist die Sauce gleichzeitig genial einfach und einfach genial. Und weil die Zeit knapp ist, löffelst Du das köstliche Zeug über die hastig nebenher aufgestellten Nudeln, nimmst hungrig Deinen Teller, fläzt Dich im Schneidersitz ins Chaos und hoffst, wenigstens nebenbei einen Bissen aufwickeln und vertilgen zu können. Jeder dieser Bissen ist aber ein hektisch genossener Traum.

Zutaten
Zwei Dosen Tomaten à 450 Gramm (San Marzano sind die besten, aber schwierig zu bekommen und teuer).
80 Gramm Butter
1 Zwiebel
1 Teelöffel Salz,
2 Teelöffel Zucker,
Pfeffer
Parmesan
Zubereitung
Statt frischer Tomaten, die nur ganz kurz im Jahr richtig reif und vollmundig sind und sonst eher unter Wassereinlagerungen leiden, sollte man Dosentomaten nehmen. Gern gehackt, das spart eigene Arbeit.
Die Tomaten aus den Dosen in einen Topf rutschen lassen.
Eine Zwiebel schälen und halbieren und dazugeben. Jetzt fehlen noch 80 Gramm Butter, ein Teelöffel Salz sowie zwei Teelöffel Zucker.
Das Ganze auf mittlerer Hitze einmal aufkochen lassen, dann runterschalten und bei offenem Topf köcheln lassen. Mindestens eine Dreiviertelstunde lang, gern auch länger.
Denn während die rote Pracht so vor sich hinsimmert und ganz langsam etwas einkocht, karamellisieren die Tomaten, verpuppen und verwandeln sich, bis am Ende deutlich kräftigere, vielschichtigere Aromen herauskommen. Das Ganze braucht sehr wenig Arbeit.
Wem langweilig ist, der kann zwischendurch mal rühren. Aber die Sauce kommt ganz gut allein klar. Wer mag, kann für noch etwas mehr Intensität zum späteren Köchelzeitpunkt noch Parmesan hineinreiben. Vielleicht drei Esslöffel, je nach Geschmack etwas weniger oder noch mehr. Ich werfe mitunter auch ein Kantenstück Parmesan, mit dem man sonst nicht mehr viel anfangen kann, hinein und lasse es einfach mitköcheln. Zum Schluss noch eine Prise Pfeffer drauf. Das war’s.
Natürlich kann man Saucen auch mit Rotwein aufgießen und reduzieren, mit Basilikum, Oregano und/oder Thymian würzen. Abenteurer könnten auch noch einen Teelöffel Miso in die Nummer schmuggeln. Aber diese schlichte Schönheit hat so etwas erstaunlicherweise nicht nötig. Sie strahlt von selbst.
Musik zum Menü
Wer durch hektische, mitunter vogelwilde Tage tobt, fühlt sich ein wenig, als hätte Marie Antoinette das ihr fälschlicherweise zugeschriebene Zitat in „Let them eat chaos“ umgedichtet. Das hat in Wirklichkeit aber Kate Tempest getan und mit ihrem literarisch beeindruckenden gleichnamigen Hiphop-Album vor ein paar Jahren reihenweise Kiefer runterklappen lassen. Und vielleicht fühlt irgendwer sogar tatsächlich den Impuls, Pferdedrogen zum Frühstück zu nehmen (ich nicht). Voilà: „Ketamine for breakfast“.
Und so wirbelwindig, wie das Leben einem mitspielen kann, tobt auch „Our velocity“ von Maxïmo Park mit wilden Wendungen und mächtig Tempo vorwärts. Passt insofern auch hervorragend.
Wieder großartig geschrieben. Nie wieder eine andere Tomatensoße!
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Ganz lieben Dank Dir! Und ich variiere bei Tomatensaucen weiterhin ganz gern mal, aber keine kommt öfter auf den Speiseplan. Das ist inzwischen wie nach Hause kommen. 🙂
Schönen Feiertagabend 🙂
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Ach, ist ein chaotischer Alltag nicht schön, wenn Wachsmalstifte erschöpft sein können und ein Legozug bunte Fragmente hinterlässt? Wie schön harmlos und lieblich das klingt. Und dazu noch ein leckeres Essen mit musikalischer Untermalung, was will man mehr 🙂
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Ich bin nicht derjenige, der sein Frustfauchen und Wutgrummeln, das solche Tage durchaus flankieren kann, öffentlich herausjammert. 🙂
Und ich bin keineswegs genial, daher beherrsche ich das Chaos nicht. Aber langweilig wäre definitiv langweilig.
Und leckeres Essen und gute Musik sind ne Menge wert. Danke für Deinen Besuch und die schönen Worte. Hab nen tollen Abend! 🙂
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Danke. Ebenfalls einen erholsamen Abend 🙂
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Dieses Sugo-Simmern aus Worten und Tomaten mundete bereits während des Lesens ganz vorzüglich.
Das Geheimnis liegt in der Soße…“
(Filmzitat aus: Grüne Tomaten)
Liebe Grüße mit Parmesanhobelchen und einem Thymianzweig im Schnabel
Amélie
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Absolut treffend beschrieben, die Qualitäten eines Kleinkind-Haushalts und die tröstliche Eigenschaft dieser feinen Sauce die auch hier inzwischen häufig auf den Tisch kommt. Wenn auch meine nervenzehrenden Umstände ganz anderer Art sind
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Das Kleinkind ist bei uns herzlichst willkommen und die Tomatensauce eine Bereicherung auf unserem Speiseplan. Auf deinem Blog immer mit großer Aufmerksamkeit und Begeisterung dabei!
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Haha, wir dürften uns in ähnlichen Lebensumständen befinden 😉 Ach übrigens: Gegen Krümel unter Küchenstühlen hilft ein Hund ungemein!!! :-)))
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