
An einem der Enden der Welt haben sie ein gedrungenes Wachhaus zwischen haushohe Felsen gemauert, so dass die wilden Stürme sie nicht zerlegten, keine wüsten Wogen vom Ozean durch die kleinen Fenster peitschten. Meneham im Pays Pagan, im Land der Heiden an der Nordküste des Dèpartements Finistère, ein unwirtlicher, unwirklicher Flecken Erde. Finistère, Ende der Welt. Wie passend, dass fast gegenüber, auf der anderen Seite des Ärmelkanals, Land’s end liegt. Vor Angriffen der Briten über See sollten die Zoll- und Wachposten zwischen den Felsen warnen. Und friedlicheren Ankömmlingen Bares abknöpfen. Während in diesem felsigen Flecken in der Bretagne früher Menschen kargstes Leben über schroffen Klippen fristeten, schlurfen dort heute Touristen umher, klettern auf die Steinbrocken, zücken Handys. Auch Wulnikowski trieb sich dort herumgetrieben, in Jugendjahren, allerdings nachts, unter Sternen. War mit dem Interrail-Ticket allein bis Brest gefahren, von dort getrampt bis nach Kerlouan. Keiner seiner Freunde hatte mitgewollt.
Hatte im „Le galion“ allzu tief in Cidre-Gläser geguckt, weiß getünchtes Haus, riesiges Abluftrohr aus Stahl, Absenkriss in der Außenwand. Blickte quasi irgendwann glasig durch die Böden der Karaffen, und torkelte dann so schief und krumm die etwa dreieinhalb Kilometer bis zur Küste, bis zu diesem magischen Wachhaus aus dem 17. Jahrhundert zwischen Felsen, dass er die Distanz von Hin- und Rückweg vermutlich schon kurz vor Ankunft am Meer erreicht haben müsste. Und irgendwie, sich winzig vorkommend, hatte er in die Milchstraße geblickt mit mindestens so milchigem Hirn, und plötzlich war ihm, als leuchte es von drinnen, als sei das Haus wieder bewacht, als sei da Leben, während wenige Meter entfernt das Meer nachtschwarz mit weißen Schaumkronen an den Felsen zerschellte.



Und irgendwie war er dort dann eingeschlafen, und frühmorgens weckte das Rauschen und Klatschen von Meer und Wellen ihn, und sein Steiß schmerzte, und er fragte sich, wie er dort hingekommen war, und dann saß er dort, mit taubtrübem Blick und trübtaubem Geist und verlor sich mit den Augen in der Ferne hinter der See, wo irgendwo das nächste Land zu Ende war, wenn man es denn erreicht hatte. Und in seiner Jackentasche steckte der „Mann ohne Eigenschaften“. Musil. Zerbeulte die Tasche bis zum Einreißen der Nähte. Er zog es heraus, las. „Und meint er einmal, den echten Einfall zu haben, so nimmt er wahr, daß ein Tropfen unsagbarer Glut in die Welt gefallen ist, deren Leuchten die Erde anders aussehen macht“, las er. Und er fand, sein Einfall hier draußen zu schlafen, konnte nicht so schlecht gewesen sein. Nur das mit dem Rücken. Und erinnert an die Nacht hätte er sich an sich auch gern.
Und irgendwann packte ihn der Hunger, und er machte sich auf, um nach Kerlouan zurückzulaufen, und in einer Boulangerie besorgte er sich einen Kaffee, und der Hunger wuchs zum Heißhunger, und wie passend war es, dass ihm nun im Dorf ein Restaurant begegnete, das genauso hieß: „La p’tite fringale“, der kleine Heißhunger. „Mein Heißhunger ist aber sogar groß“, dachte er zu sich. Oder sagte es im Stillen.

Und als „plat du jour“, als Gericht des Tages, gab es poulet à la crème, au cidre et estragon, Hähnchenbrust in Cidre-Rahm mit Estragon, und es war ja schon fast Mittag, und heidenei, hallo Heißhunger. Und er setzte sich nach draußen, und einige Meter entfernt stand ein Schild, auf dem sauf bus stand, was eigentlich nur hieß, dass die Fahrspur für den Verkehr bis auf Busse gesperrt war, aber Wulnikowski stellte sich feixend kurz Saufbusse vor, in denen die Fahrgäste sich unentwegt Cidreflaschen reinschrauben. Und kurz wurde ihm anders, und weil nichts geschah und niemand kam, las er noch einmal ein paar Seiten. „Ulrich fühlte zuweilen mit aller Eindringlichkeit, daß Diotima sehr schön sei. Sie kam ihm dann wie ein junges, hohes, volles Rind von guter Rasse vor, sicher wandelnd und mit tiefem Blick die trockenen Gräser betrachtend, die es ausrupfte.“ Und er dachte: „Niemals werde ich mich zu einer Frau hingezogen fühlen, die mich an ein Rind erinnert, bei der ich mir vorstelle, wie sie Gras ausrupft oder betrachtet.“ Und während er bis gerade noch darüber nachgedacht hatte, sich „Steak haché“, zu bestellen, Hacksteak aus Rind. Zumal er etwas böse Erinnerungen an den Cidre der Vornacht hatte. Und dann dachte er sich, „was soll’s? Cidre ist zu gut“.
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Und dann schwenkte er spontan doch um aufs Tagesgericht. Und kurz darauf tat sich auch etwas. Eine Kellnerin mit einem Gesicht wie eine zerknitterte Schatzkarte kam herangeschlurft. „Oui?“ Er bestellte. Das Tagesgericht. Und als es kam, nahm er zaghaft einen Bissen, und plötzlich war es, als kehrte die Kraft zurück, und mon dieu, war das köstlich. Das zarte, gut gesalzene Fleisch und frisch gekochte Penne-Nudeln wurden umschmiegt von einer cremigen Sauce, in der sich keck-säuerliche Fruchtigkeit des Apfelweins mit der zartmächtigen Milde der Sahne mischte, und der frische Estragon, der manchmal ja auch eher so aromatisch wie Esspappe ist, wenn man deutschen erwischt, streute seine leicht an Heu und Anis erinnernden Noten bei, und es passte göttlich. Und Wulnikowski schlang. So schlicht, so simpel, so raffiniert. Und schmeckt nicht allein schon Cidre wie in Flaschen eingefangener Sommer?
Und zuhause versuchte er, das Gericht nachzukochen, und so ganz weit davon entfernt landete er nicht, und noch viele Jahre später flutete ihn Wohlgefühl und sprudelten Erinnerungen an die Nacht, an die er sich nicht erinnern konnte, und an dieses unfassbar schlichte und doch so köstliche Essen kurz vor einem der Enden der Welt.








Das braucht man für die Hähnchenbrust mit Cidre-Rahm-Sauce und Estragon
1 Bio-Hähnchenbrustfilet-Doppel
1 Becher Sahne
2 rote Zwiebeln
1 Glas Cidre
1 Handvoll frischen Estragon
Salz
Pfeffer
Parmesan
Penne
Butter
Mehl (optional)
Zitronenzesten (optional)
So macht das Ganze
Am besten schon am Vorabend die Hähnchenbrüste salzen und über Nacht im Kühlschrank ziehen lassen. Das macht sie zarter.
Etwas Butter auf mittlerer Hitze in einer Pfanne auslassen, die Hähnchenbrüste darin im Ganzen anbraten, bis sie von beiden Seiten kross und golden sind. Während dessen Zwiebeln schälen und fein hacken.
Das knusprige Fleisch aus der Pfanne nehmen und ruhen lassen.
Ordentlich viel Salzwasser für Nudeln aufstellen, sie ins kochend sprudelnde Wasser werfen und nach Packungsanleitung garen.
Derweil die Zwiebelwürfelchen ins Fett geben, eventuell noch etwas Butter dazugeben, und sie – nun auf niedriger Hitze – langsam golden schmoren und karamellisieren lassen. Wenn die Würfel so weit sind, mit dem Glas Cidre ablöschen, köcheln lassen.
Etwas später die Sahne dazugeben und nochmals auf weiterhin niedriger Hitze etwas mitköcheln, vielleicht auch zart einkochen lassen. Nun auch die Handvoll Estragonblätter (bis auf wenige zur Deko) dazugeben. Das Aroma des Estragons ist sehr flüchtig, weshalb man ihn nur kurz erhitzen, aber nicht lange kochen sollte. Das Fleisch, dessen Säfte sich durchs Ruhen verteilt haben, in Streifen schneiden und zurück in die Sauce geben.



Wem die Sauce zu flüssig ist, kann mit rasend schnellen Schneebesenschlägen auch noch etwas Mehl einrühren, vielleicht einen Esslöffel.
Großzügig Parmesan darüberreiben, was die Geschmackstiefe deutlich vergrößert. Mit Salz und Pfeffer abschmecken. Wer mag, kann auch noch ein klein wenig Zitronenschale für mehr Frische dazureiben. Auf den gar gekochten Nudeln anrichten, vielleicht noch mit ein paar Estragonzweigen/-blättern garnieren. Bon appétit!
Musik zum Menü
Wenn schon Bretagne, wenn schon diese karge Traumschönheit mit ihrer schroff gezackten Küste, den grauen Steinhäusern und dem Hinterland, wo Apfelbäume sich im Sturm krümmen, und wenn schon Cidre-Saufen, dann unbedingt „Son ar chistr“, das uralte keltische „Lied vom Cidre“, das der Harfenist Alan Stivell 1970 bekannt gemacht hat, ehe die „Bots“ es in Deutschland unter dem mit niederländischem Einschlag gesäuselten Titel „Was sollen wir trinken?“ zum Ohrwurm und Klassiker gemacht haben.
Und wenn schon Frankreich, darf in meinem Fall auch ein Belgier nicht fehlen, der aber zum Grandseigneur des französischen Chansons wurde: Jacques Brel. Und von ihm hier das im wahren Wortsinn todtraurige, aber auch zauberschöne „Jojo“.
Und wenn schon Franzosen, dann vielleicht auch Phoenix – mit ihrem Riesenhit „Lisztomania“.
Und wenn schon Frankreich und wenn schon unter Sternen, dann vielleicht auch noch Noir Désir – deren Musik viele tief geprägt und bewegt hat, ungeachtet des späteren Umstands, dass Sänger Bertrand Cantat wegen Totschlags und unterlassener Hilfeleistung an seiner Freundin Marie Tritignan 2004 in Litauen zu acht Jahren Haft verurteilt wurde und zumindest drei Jahre lang auch im Knast blieb: „À ton étoile“.
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Das sieht wieder sensationelles aus 🤩
Wie eben ein sommerfrische Pasta-Hinmel 😉
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Das freut und ehrt mich immens!
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Sehr schön sonntäglich, die Gedankenreise an das Ende der Welt und sehr froh bin ich jedesmal über deinen Hinweis das Fleisch am Vortag zu salzen, diese Weisheit gehört unbedingt verbreitet.
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Ich finde auch, es ist ein sehr verbreitenswerter Hinweis. Und am Ende der Welt kann e ja durchaus sehr schön sein. Bretagne, Land’s End, Ostfriesland, Antarktis… 🙂
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Portugal nicht zu vergessen 😊
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Diesmal habe ich den Text nur quergelesen (manchmal ist dein Stil für meine Lesegewohnheiten etwas langatmig/weitschweifig), aber gleich der erste Musiktipp: 1000 Dank! Ich wusste nicht, dass das Lied älter ist als „was solle‘ wir trinke'“, und es ist wohltuend, auch wenn ich den deutschen Text schwer ausblenden kann (auch weil ich den keltischen nicht verstehe).
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Ich habe schreiberisch fraglos auch meine glanzvolleren und weniger funkelnden Momente. Zumal in Wochen voller Krankenhauskrams in der Familie. Und dann mit mattem Hirn schwafle ich womöglich auch schonmal. Da kann ich gut haben und verstehen, dass Du nur querliest, weil wertvolle Zeit. 🙂
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Den Kranken beste Besserung!
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Ganz lieben Dank Dir!
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Und die Grundmelodie samt gälischem Text ist wohl Jahrhunderte altes Cidre-Sauflied auf Gälisch. Was ich ebenso gut verstehe wie Du 😁
Man kann die Übersetzung googeln, meine ich. Hab ich zumindest vor Jahren mal gemacht.
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Ja, aber es (in Grundzügen) zu verstehen gefiele mir eigentlich besser als eine Übersetzung zu lesen. „Grândola Vila Morena“ (hier eine m.E. sehr schöne Version etwas abseits der allgemein bekannten: https://www.youtube.com/watch?app=desktop&v=h4juIkdR7Ic) haben wir so, ohne Portugiesisch-Kenntnisse, auseinandernehmen und wieder zusammensetzen können.
Mit dem Original von „What shall we do with the drunken sailors“ (ein ganz ähnlicher Effekt wie bei Bots vs. Alan Stivell – da wusste ich auch nicht, dass das Lied ältere Wurzeln hat), klappte das dagegen gar nicht.
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Oró Sé do Bheatha ’Bhaile ist ja ähnlich keltisch… und in etwa so leicht zu erschließen wie Finnisch. Aber ich mag diese uralten Weisen und Geschichten, die damit verknüpft sind – so
wenig man die Originale versteht. 🙂
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Lieber Ole,
Hier klingt alles durchweg magisch: das Cidre-Coq und eine Frau mit „einem Gesicht wie eine zerknitterte Schatzkarte“ an einem der verwunschenen Enden der Welt. Dazu Jaques Brel oder die keltische Weise und ein Musilmann ohne Eigenschaften. Bonfortionöse Lektüre ist er nicht nur in der Bretagne.
Gerne goutierte ich Deine Erzählung- allerdings mit Besorgnis, da Du oben im Kommi von Krankenhauskram schriebst…
Hat sich die Lage inzwischen wieder entspannt?
Sommerliche Grüße
Amélie 🍃
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Das Katastrophenstadl beschert bislang zumindest ein annähernd katastrophenfreies Wochenende, was fast etwas wundert nach den letzten Wochen und Monaten. 🙂
Tausendundeinen Dank Dir auch für solch bonfortionöse Worte, einmal mehr. Ich hoff, Dir geht es mindestens gut?!
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