Fast 22 Jahre ist es her, da krachten vier in Los Angeles lebende Armenier in die Musikszene wie Alf in die Garage der Tanners. Was das Quartett, System of a down getauft, auf seinem Album „Toxicity“ zusammengerührt hatte, brachte Hörgewohnheiten ins Schlackern, walzte Grenzen nieder. Wie experimentierwilde Derwische warfen sie scheinbar völlig Unvereinbares in einen brodelnden Kessel: Donnernde Riffs, die halsbrecherische Haken schlagen wie ein Hase auf der Flucht, raffiniert verschachtelte Grooves, wüste Trommelwirbel, Stakkato-Attacken, Gesangslinien, die sich wie Achterbahnen überschlagen – dann aber urplötzlich in honigsüße Hymnen gleiten, herrlich leicht wie Erdbeercreme, mehrstimmige Inbrunst, streichelzarter Sanftmut. Natürlich hatte es die Jungs vorher schon gegeben, sie hatten zuvor auch schon gemeinsam famose Musik gemacht – so wie Alf vorher schon auf Melmac sein Unwesen getrieben hatte.
Und doch war der plötzliche Einschlag gerade bei diesem Album immens, und alles so aufregend anders, neu, unerhört. Als wären einem die Augenlider weggeschnitten, als wäre man ohne Vorwarnung von einem wildpoetischen Wirbelsturm erfasst worden. Auch bei Alf, dem zotteligen, von Rachel Ochmonek aus Kartoffelbrei nachmodellierten, katzenverschlingenden Außerirdischen. Dass das Album in den USA exakt eine Woche vor 9-11 erschien, dass dieses Ereignis die Welt mindestens so zum Beben brachte, in Grundfesten erschütterte und veränderte: Randnotiz, weil hier nichts ins Düstere kippen soll. Natürlich läge hier nahe, zum größten Hit vom Album, zu „Chop Suey“ den gleichnamigen Fastfood-Klassiker, zu kochen. Stattdessen geht es hier um Hackbällchen in Tomatensauce – aber in einer unerhört anderen Variante.
Denn mir ging es ein wenig so wie beim Erstkontakt mit „Toxicity“, als ich jetzt zum ersten Mal ein Rezept des indisch-britischen Aromen-Zauberers Gurdeep Loyal aus seinem ungemein spannenden Kochbuch „Mother Tongue“ gekocht habe. Über die Jahre bin ich und ist mein Gaumen rund um die Welt getingelt, enge Freundschaften überall geschlossen, kennt vieles. Und so sehr ich auch selbst gern mit Konventionen spiele, um unerwartete Ecken biege und scheinbar Unvereinbares kreuze, hat seine Interpretation von Hackbällchen in Tomatensauce meinen Geschmacksknospen die Füße weggetreten und verwirrt umherstolpern lassen. Sowas Unerschmecktes hatte ich lange nicht. Vor vielen Jahren hatten die Autoren des „Lonely Planet“-Reiseführers für Deutschland vorgeschlagen, in Kneipen das Eis im Gespräch mit Einheimischen zu brechen mit dem Satz: „Ihr Hosegeschmack (sic!) ist sehr wagemutig.“ Im Fall von Gurdeep Loyal ließe sich das passend von Hosen auf Fleischbällchen übertragen.
Weltbereist und abenteuerlustig hat er – in Leicester aufgewachsenes Kind Whisky trinkender, indischer Eltern aus dem Punjab – rund um den Globus Aromen aufgesogen, ist als Essens-Schreiberling 2021 mit dem weltberühmten Jane Grigson Trust Award der International Association of Culinary Professionals ausgezeichnet worden und hat in den Harrods Food Halls in London die „Taste revolution“ ausgerufen. Zu den von ihm im knisternd spannenden Buch verratenen Gerichten zählt nicht nur seine indisch-britische Version deutscher Currywurst, nur ohne Wurst, sondern mit dem indischen Frischkäse Paneer, sondern auch eine aufregend andere Variante von Fleischbällchen in Tomatensauce, die sich bei ihm in indische Köfte mit klebrig-süßer Mango-Limetten-Tomaten-Salsa verwandeln.
Und hier sind wir wieder bei System of a Down und dem Vereinen komplexer Arrangements, verschachtelter Grooves, brachialer Gegensätze: Denn für sich allein genommen tingeln die Fleischbällchen wie auch die Tomaten-Limetten-Mango-Sauce jeweils in Extreme. Die Klopse, nicht nur mit Garam Masala, frischen Koriander, Ingwer und einer mächtigen Menge Knoblauch gewürzt, sondern auch mit torfrauchigem Whisky und Rauchsalz bringen verblüffende Bitternoten ins Spiel, während die ebenfalls mit Rauchsalz, frischer Minze und frischem Koriander sowie Mango-Chutney und Limettensaft und -schale in Fahrt gebrachten Tomaten in einer schrillen Menge Zucker und Honig karamellisieren und das Ganze daherkommt wie eine aus dem Irrenhaus ausgebrochene Mischung aus Ketchup, Barbecue-Sauce und Obstsalat. Was niemanden schrecken sollte, denn im Zusammenspiel von greller Wildheit und dem Tanzen in Extreme entfalten die Elemente ein fantastisches Zusammenspiel, während die Kontraste aufeinanderkrachen, wild ballernd und honigsüß-hymnisch zugleich die Geschmacksknospen beben lassen. Das kann im Anfang verstören, zumal, wenn man – wie ich – mit Barbecue-Saucen niemals Brüderschaft trinken würde. Und doch sind die Raucharomen sehr subtil und passend, die Fruchtfrische der Mangoschnitze ergänzt das Aromenspektakel, die Säure der Limetten holt die Süße der Sauce vom Baum. Und so wie das wildsüße Musikgewitter der armenischen Kalifornier einen im ersten Moment verstört, während es wildsüß über einen hinwegfegt, brodelt, schäumt, sich aufbäumt und man halb gerädert am Ende kurz nach Luft ringen mag, ist es vielleicht auch mit diesem Gericht, das im allerersten Moment verstören mag in seiner Intensität. Und einen dann doch sofort zum nächsten Bissen greifen, nachnehmen und später aus der Pfanne naschen lässt. Großes, besonderes Kino.
Zutaten für die Kofta mit Mango-Limetten-Tomaten-Sauce
Für die Fleischbällchen:
500g Hackfleisch (halb/halb)
4 Esslöffel rauchigen Whisky
1 Esslöffel frisch geriebenen Ingwer
6 Knoblauchzehen, sehr fein gehackt, gepresst oder gerieben
10 Gramm frischen Koriander, feingehackt
1 Esslöffel Garam Masala
2 große Schalotten, sehr fein gehackt oder gerieben
1 gehäufter Teelöffel Chiliflocken
1 gehäufter Teelöffel schwarzer Pfeffer
1 gehäufter Teelöffel Rauchsalz
2 Esslöffel Grieß
1-2 Esslöffel Ghee/geklärte Butter oder anderes Bratfett
Für die Sauce:
1-2 Bio-Limetten, Schale fein abgerieben, Saft ausgepresst,
4 Esslöffel Zucker
2 Esslöffel Honig
3 Esslöffel Mango Chutney
300 Gramm Cherry-Tomaten, längs halbiert
1/2 Teelöffel Rauchsalz
2 Esslöffel gehackte, frische Korianderblätter
2 Esslöffel, gehackte, frische Minzblätter
2 Esslöffel geröstete, gehobelte Mandeln (optional)
Dazu: Reis, nach Packungsanleitung in Salzwasser gegart.
1 reife Mango, geschält, in Spalten geschnitten.
So macht man die Kofta in klebrigen Mango-Limetten-Tomaten
Für die Frikadellen alle Zutaten in einer Schüssel vermengen, mit den Händen verkneten und daraus Fleischbällchen, formen. Bei mir sind es acht geworden. Im Original ebenfalls. Die dürfen zugedeckt nochmal eine Stunde oder länger im Kühlschrank ziehen, dann halten sie besser zusammen.
In einem ofenfesten Bräter bei mittlerer Hitze das Bratfett auslassen und 2-3 der Frikadellen gleichzeitig von beiden Seiten knusprig braun (nicht schwarz) anbraten. Mehr Frikadellen auf einmal braten führt dazu, dass mehr Bratensaft/Wasser austritt und man die Dinger eher kocht und dünstet statt brät. Die von beiden Seiten gebratenen Klopse beiseite stellen. Parallel schonmal den Ofen auf 180°C vorheizen.
Danach im Bratfett den Zucker und den Honig auslassen und unter Rühren bei niedriger bis mittlerer Hitze drei bis vier Minuten lang karamellisieren. Aufpassen, dass es nicht zu dunkel und damit bitter wird.
Den Limettensaft und die -zesten dazugeben, das Mangochutney einrühren, das Rauchsalz ebenfalls und kurz darauf auch die Tomaten. Etwa zwei, drei Minuten köcheln lassen, dann die gehackten Minz- und Korianderblätter darüberstreuseln und ordentlich durchrühren.
Die Fleischklopse wieder in die Sauce legen, Tomaten und Sauce darüber löffeln und dann nochmal für ne gute Dreiviertelstunde in den Ofen schieben, bis die Tomaten klebrig zerfallen sind und die Klopse durchgegart und etwas knusprig oben. Parallel den Reis kochen.
Zwischenzeitlich die Sauce gern nochmal über die Fleischklopse geben, denn es soll ja nichts austrocknen. Eventuell auch nen Schnapsglas Wasser.
Wer mag (so schlägt Gurdeep Loyal vor), sprinkelt vorm Servieren noch ein klein wenig rauchigen Whisky zusätzlich darüber, auch nen ordentlichen Spritzer frischen Limettensaft, und wer mag, kann auch ein paar ohne Fett sanft angeröstete, gehobelte Mangelscheibchen darüber streuseln. Und den Reis dazu servieren. Oder Naan-Brot.
Musik zum Aromenfeuerwerk
Warum System of a Down hier eine Rolle spielen, ist oben beschrieben. Hier gibt’s sie nun auf die Ohren. Mit „Chop Suey“.
Und mit „Toxicity“ noch einen brachial vertrackt groovendes Monster hinterher.
Und wo es hier ja um Kofta, also Fleischbällchen, geht, kann man ja auch nochmal Kofta anspielen: „Salute, let’s progress“.
Hah! Stimmt hier, weil das ist einfach Hah! Mit fettem Ausdruckszeichen. Da passt die Musik(vorstellung, weil ich kenne die Band noch nicht) zu den Bildern und das Buch…. muss ich kaufen. Indisch – Gewürze – Spices. Die Sammlung erweitert sich. Eine gelungene Gesamtkomposition. Und jetzt hör ich mal die Musik 😉
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Ja, ja und nochmals ja
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Junge, Junge, das liest sich aber lecker. Vor allem stelle ich mir den Whisky in den Bällchen super lecker vor. Aber ob ich da einen Laphroaig nehmen würde weiß ich nicht, der hätte mir dann doch zu viel Raucharoma. Allerdings muss ich gestehen, dass ich an rauchigen Whiskys nur diesen kenne. Ich tendiere da zu einem etws weniger rauchigen. Mein Sohn müsste mir da einen empfehlen.
Liebe Grüße, Karin
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