Das Hirn bejubelt ja gern sein Gedächtnis: Wenn Künstler auf Konzerten ein Song mit einem ganz neuen, veränderten Intro beginnen, braust der Jubel genau dann laut auf, sobald die Nummer in die bekannten Bahnen eingebogen ist und das Publikum den Hit erkannt hat. Und es singt die Passagen besonders laut und begeistert mit, die es kennt. Ich weiß, wie oft ich selbst im Eiscafé war, dachte, „heute bestellst Du mal was ganz Anderes als sonst“, um dann am Ende ein Spaghetti-Eis zu ordern. Dabei gibt es so Tolles zu entdecken. Und im Umkehrschluss sind wir im Widerstand gegen das Unbekannte. In Gegenden, wo besonders wenige aus fremden Ländern Geflüchtete oder Zugewanderte leben, sind die Angst, der Argwohn, der Hass ihnen gegenüber am größten. Was nicht zuletzt aus Unkenntnis geboren ist. Gefühlt nirgends ist im Herbst die Dichte röhrender Laubbläser größer als in Ostfriesland, womöglich, weil es hier einfach weniger Bäume als anderswo gibt und das Laub vielleicht die große, auch störende Unbekannte ist. Und was man nicht kennt, wird weggeblasen, verjagt, ausgerissen. Dabei verdient so vieles von dem, gegen das wir Vorurteile und Missbehagen entwickelt haben, entdeckt zu werden, kennengelernt, wertgeschätzt. Kann suf ganz neue Weisen bereichern.
Das ist auch bei Wildkräutern so. Wie viele von uns verachten das, was in Beeten und im Unterholz der Sträucher wuchert, weil es vielleicht nicht blüht, weil es sich rasend schnell verbreitet und wie ein Teppich über die Erde legt. Unkraut. Muss weg. Und so mancher holt dann die Sprühflasche raus und bügelt alles mit Roundup nieder. Holt die Hacke, rupft alles raus. Und wirft es auf den Kompost, schreddert es. Dabei sind viele der Pflanzen essbar, mitunter sogar köstlich – und oftmals viel gesünder und auch aromatischerals das, was man stattdessen für teures Geld im Supermarkt an industriell gezogenem Grünzeug holt.
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Auch ich räume ohne Zackenabbruch meiner Krone ein, dass ich viel zu wenige Wildpflanzen kenne, das ich auch das, was im Unterholz meines Gartens grünt, noch viel zu wenig ernte, genieße. Da sind andere wie die famose Ute Mangold so viel tiefer im Thema (was nicht ist, kann bei mir ja auch noch werden, aber hin da, Leute!). Immerhin habe ich aber keine Abneigung dagegen – und mir nun einen Ruck gegeben, um mal (für mich) Neues zu probieren: Ich habe eine Wildkräutersuppe gekocht. Und wie wirklich verblüffend köstlich die war. Meine Liebe zu Bärlauch hat da bislang eine Ausnahme gebildet und ist hier ja schon umfangreich belegt. Aber was ist mit Giersch, mit Gundermann, mit Brennnesseln? Knoblauchrauke? Löwenzahn? Gänseblümchen?
Wie oft gehen wir etwa ahnungslos an Gundermann vorbei, der an Straßen- und Wegesrändern, im Wald oder auch im Unterholz der Gärten sprießt? Die Pflanze, auch Gundelrebe, Soldatenpetersilie, Heckenkieker oder Erd-Efeu genannt, zum Beispiel galt in frühen germanischen Zeiten schon als Heil- und Zauberpflanze, sollte Schutzzauber gegen die Pest aber auch gegen Hexen erwirken können, wurde zur Walpurgisnacht am 1. Mai zu Kränzen gebunden und teils auch um die Stirn gebunden getragen, und angeblich sollte man auf diese Weise Hexen erspähen können. Im legendären Heilpflanzenbuch „Physica“, das Historiker der Feder von Hildegard von Bingen zugeschrieben haben, findet sich die früheste bekannte Beschreibung der Pflanze als „gunde reben“ – und darin wird sie zur Linderung von Erschöpfungszuständen beschrieben. Später, im 15. Jahrhundert, finden sich ähnliche Aussagen in süddeutschen Kräuterbuch-Handschriften. Auch gegen Ischias- und Milzerkrankungen, Brandwunden, Leberverstopfung mit Gelbsucht sollte sie helfen könnten, oder auch Augenentzündungen. Im frühen 19. Jahrhundert wurde sie auch angewandt, um Lungentuberkulose zu lindern.
Bei der Käseherstellung ist Gundermann als pflanzliches Lab benutzt worden. Im Frühling gesammelte junge Blätter wurden früher als Gemüse gekocht, bevorzugt in Gründonnerstagsgerichten. Weil Gundermann reich an Antioxidantien, Flavonoiden, Bitterstoffen, Gerbstoffen und ätherischen Ölen ist, landete er mit seinen minz- und lakritzähnlichen Aromen besonders als Gewürz in Speisen. Seinen Namen hat die Pflanze womöglich nicht zuletzt vom althochdeutschen und gotischen „gund“, was „Eiter“ oder „Geschwür“ hieß – und gerade dort, wo Schleim oder Eiter flossen, fand die Pflanze besonders oft Anwendung, eben weil das vitaminreiche Heilkraut als auswurffördernd, entzündungshemmend, schleimlösend, wundheilend galt. Und weil es hilft, Giftstoffe aus dem Körper zu lotsen.
Auch Bärlauch etwa ist reich an Antioxidantien und Schwefelverbindungen, die entzündungshemmend und antimikrobiell wirken können. Zusätzlich kann Bärlauch den Blutdruck senken und das Risiko von Herzerkrankungen reduzieren. Er soll sogar Krebserkrankungen vorbeugen können. Und so könnte man die Liste endlos weiterführen.
Mein Hirn bejubelt jedenfalls die Begegnung mit dem Vergessenen und Unbekannten, die wundersam wundertollen Aromen der Suppe, die dank Giersch und Gundermann, Bärlauchblättern und -blüten, einem Bisschen Knoblauchrauke, Gänseblümchen und auch zarten Brennesselblätterspitzen eine ganz besondere Würze entfaltet hat. Dank des Gundermanns meint man immer wieder plötzlich Minze oder auch Lakritz zu schmecken. Welch sinnliches Abenteuer.
Für mich ist Unkraut ein Unwort. Und sind Laubbläser ein Unding. Und das als Ostfriese. Kennenlernen, Entdecken, dem Unbekannten eine Chance geben und seinen Reiz und seine Besonderheiten erkunden: Gibt es in Wirklichkeit Schöneres?
Zutaten für die Wildkräutersuppe
Für 2 große Portionen
200 g Wildkräuter (hier: Bärlauchblätter und -blüten, Gundermann, Giersch, junge Brennesselblätterspitzen, ein wenig Knoblauchrauke – Achtung, bitter!, ein paar Gänseblümchen)
1 Zwiebel
1 Knoblauchzehe
250 g Kartoffeln, bevorzugt mehligkochend
150 g Lauch
2 Stiele Petersilie
2 EL Butter
600 ml Gemüsebrühe
100 ml Crème fraîche
100 g Schlagsahne
Parmesan
Salz
Pfeffer
So wird die Wildkräutersuppe gekocht
Die Kartoffeln schälen und würfeln. Die Zwiebel und den Knoblauch abziehen und jeweils fein hacken. In einem Topf die Butter bei niedriger bis mittlerer Hitze auslassen und zunächst die Zwiebeln darin andünsten, bis sie blassgolden werden. Dann den Knoblauch dazugeben und zwei, drei Minuten mitschwitzen.
Kartoffelwürfel und Lauch hinzugeben und noch ein wenig rösten. Dann mit der (warmen) Brühe ablöschen und für 20 bis 25 Minuten köcheln lassen.
Währenddessen die Kräuter sehr gründlich putzen und waschen, trocknen und feinhacken, ein paar Blüten eventuell als Deko beiseitelegen. Zum Ende der Köchelzeit die Kräuter hinzugeben und zwei, drei, vier Minuten mitsimmern lassen. Mit Sahne, Crème fraîche und frisch geriebenem Parmesan dowie Salz und Pfeffer abschmecken. Dann das Ganze mit einem Pürier- oder Zauberstab (immerhin sind Kräuter drin, denen Zauberkräfte zugesprochen werden) zu einem sämig-sinnlichen Ganzen zerlegen. Und mit Blüten bestreut servieren. Guten Appetit!
Musik zum Menü
Wenn es um Kräuter geht, kann man auch auf die englischen „herbs“ kommen und ist dann, wenn man mein Hirn nimmt, schnell bei Herbie Hancock. Und beispielsweise dem famosen „Cantaloupe island“.
Und dann ist da ja noch Gundermann. Nicht nur magische Würz- und Heilpflanze, auch Nachname von Gerhard Gundermann, dessen Geschichte der gleichnachnamige Film Gundermann erzählt. Hier daher eins seiner Stücke mit bodenbedeckendem Titel: „Gras“.
Und von da ist es dann auch nicht mehr weiter zu Noah Gundersen, dem Großen. Der mit der noch größeren Phoebe Bridgers und seiner Schwester Abby eine zauberzarte akustische Version seiner grandiosen Rockhymne „The sound“ sowie des Killertitels „Killer“ aufgenommen hat.
Springen wir von da noch kurz weiter zu Gänseblümchen (wundert es wen, dass es anscheinend bislang noch keinen auffindbaren Song über Giersch gibt?) – und zum fantastischen „Daisies of the galaxy“ der oh so wundertollen Eels.
Sehr schöner Artikel, mir aus der Seele gesprochen. Wir haben auch gerade für unsere Dorfzeitschrift ein mega Feature gemacht über Wildkräuter samt Fundorten, Rezepten, Kräuterwanderung… Habe meine erste Gänseblümchenbutter gemacht. Und Löwenzahn Griessklösschen. Sind die tollen kräuterfotos alle von dir? Wunderschöne Lichtstimmung.
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Wie spannend! Gänseblümchenbutter und Löwenzahn-Grießklößchen klingen fantastisch! Und alle Fotos sind von mir. Ganz, ganz lieben Dank!
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Wunderschöne Kräuterbilder aus dem Wald! Und die Geschichten dazu aus deiner (ostfriesischen) Sicht, das ist schön für mich zu lesen, bin ich doch mittlerweile fast betriebsblind (Danke für die Verlinkung!). Und so hat mich dein Blogartikel dazu angeregt, endlich mal wieder weg vom Schreibtisch in den (schwarzen) Wald zu gehen und die zauberhaften Hexenkräuter zu suchen und zu finden. Ich bin dann mal weg ;-)….
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moin Ole, dein Süppchen liest sich so lecker mit den „Unkräutern“, ich nenne diese immer „Spontanbepflanzung“…. Ich habe Gundermann, Giersch und Brennenessel noch nicht gegessen, Brennessel nur getrunken (lecker). Aber alleine der Bärlauch ist schon klasse.
Lasst euch das Süppchen gut schmecken, ich muss glatt mal nachschauen, ob wir hier irgendwo Gundermann und Giersch haben. Aber bestimmt….
Liebe Grüße aus dem Rheinland, Karin
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