Ode an ein Lieblingsgericht: köstliche Linguine mit Hackbällchen-Carbonara.

„Am Abend, wenn die Glocken Frieden läuten,
folg‘ ich der Vögel wundervollen Flügen,
die lang geschart, gleich frommen Pilgerzügen,
entschwinden in den herbstlich klaren Weiten.„
Georg Trakl, Verfall
Nachdem die Abendsonne das Land in Buttermilch getaucht hat, kurz bevor das Dunkel alles verschluckt, versteckt sich die Welt hinter blickdichter Watte. Nebel legt sich als Decke um alles, verschleiert Details, verwischt Konturen und für einen Moment glaubt Wulnikowski, er sei kurzsichtig geworden. „Alles so trübe“, murmelt er und blickt hinauf zu den Linden, die sich über ihn wölben. Der Nebel verschleiert, wie sich die Blätter ihr Grün vom Leib geschrubbt haben. Gelb geworden sind sie und blass hängen sie da, die vorher im Licht noch golden glänzten, ehe sie sich nun trocken und entkräftet den Böen hingeben, vom Ast stürzen und zu Boden segeln. Wulnikowskis Ledergaloschen wirbeln sie umher. Bei jedem Schritt raschelt es. Noch gelber als die Blätter ist sein Regenmantel, der knirscht. Er hat vergessen einzukaufen. Nun macht er sich zu Fuß auf zum Lebensmittelladen. Zwei Jutetaschen baumeln in der Ellenbogenbeuge, während er kurz stehenbleibt und der Blätter-Segelregatta zusieht. Dann sagt er zu sich selbst: „Der Sommer ist fortgezogen, hat dem Herbst die Schlüssel in die Hand gedrückt und seine Wohnung zur Zwischenmiete überlassen.“ Er schmunzelt. Schöner Gedanke, findet er. Er selbst wäre gern mitgezogen. Aber der Sommer hat keine Adresse hinterlassen.
Auf der Auffahrt nebenan klappert es. Sein Nachbar Horst – vom sanften Nebel zum Schemen weichgezeichnet – wuchtet Elektroschrott in einen Anhänger, um ihn zur Deponie zu fahren – und der alte Eierkocher ist ihm runtergefallen. „War vorher schon kaputt.“ Der Fahrer eines Paketwagens, der kurz vor Feierabend am Straßenrand parkt, ist in Hundescheiße getreten. Am Abtritt seines Wagens hat er sie abgestreift, klettert in seine Kabine – und seine Brillengläser beschlagen, als er die Thermoskanne mit heißem Tee aufschraubt. Neben Gartenzaunpfosten wegelagern zerfratzte Kürbisse. Künstliche Spinnweben kleben in Fenstern. „An wie vielen Häusern und Wohnungen wir vorbeilaufen, vielleicht flüchtige Einblicke erhaschen, ohne jemals das Innere zu erleben und sie zu betreten“, denkt Wulnikowski. Weinranken schwanken an rostigen Gittern. Äste neigen sich. Es ist, als wisperten Windböen Geheimnisse. Wulnikowski will fort von der Straße, biegt ab in die lange Allee, die zum Schloss führt. Spaziergänger, deren Konturen sich entgegenkommend aus dem Blickdickicht schälen, haben ihre Wollschals aus der Winterklamottenkiste geklaubt, sie umgeworfen und sich tief ins Gesicht gezogen. Ein Pärchen knutscht zitternd auf einer Bank am Wegesrand, Wulnikowski umkurvt sie in höflichem Bogen. Man will ja nicht stören.

Er gelangt über die Allee in den Schlosspark, folgt den geschwungenen Pfaden, bleibt auf der Brücke kurz stehen. Unter ihm tratschen Enten und gleiten durch den Blätterteich. Auf der anderen Seite, im Laden, während er verwirrt erlebt, wie klar man drinnen gucken kann, rammt er versehentlich eine Frau, die am Rand des Gemüseganges kniet, um Kohlrabiblätter für ihre Kaninchen aus einer Kiste zu sammeln. „Können Sie nicht gucken?“, faucht sie. „Doch, aber genau das hat mich gerade verwirrt“, sagt Wulnikowski. Sie lacht. Er atmet auf. Und dann, ohne dass Sie mehr als diese zwei Sätze ausgetauscht hätten und entgegen seiner schüchternen Art, fragt Wulnikowski: „Darf ich Sie zur Entschuldigung bekochen und zum Essen einladen?“ Er zuckt zusammen, hat er das gerade wirklich gesagt? Sie stutzt, sagt dann: „Warum nicht? Ich konnte mich eh nicht entscheiden, was ich kochen will. Was wird es denn geben?“
Wulnikowski stockt. „Mist, was sag ich denn jetzt?“, denkt er. Und dann sprudeln Erinnerungen an Italien in ihm empor und an dieses eine, ganz besondere Gericht, dass ihm vor Begeisterung fast die Füße kribbeln ließ, an die zerfurchte Nonna, die im Bauch einer pfirsichfarbenen Trattoria dampfende Nudeln in zerbeulten Blechkesseln rührte – die Böden vom Gasflammenruß geschwärzt. In Castelnovo ne‘ Monti unterhalb der Pietra di Bismantova, diesem seltsam aus den Hügeln ragenden, buschbewachsenen Tafelberg, der aussieht, als ob dort ein Riese mit seinem Fuß auf die Erde getreten wäre, die Dorfbewohner hätten sein Bein einfach schräg über dem Knöchel abgeschnitten – und den Riesen danach weggezerrt, während sein Fuß dort stehen geblieben und versteinert ist. Dort hatte Wulnikowski zum ersten Mal Linguine alla carbonara di salsiccia gegessen – quasi etwas breitere Spaghetti in einer Ei-Sahne-Sauce mit ausgelassenem Pancetta, also Speck, und Wurstbällchen. Die schlichte Schönheit, die satte Wucht des Gerichts hatte er später in einem Jamie-Oliver-Kochbuch, „Genial italienisch“ hieß es, ganz ähnlich wiedergefunden. Und er sagte: „Mein Lieblingsgericht.“ „Was ist denn das?“ „Pasta mit einer satten Sahnesauce, in der sich nicht nur Eier und Speckwürfelchen, sondern auch Wurstbällchen tummeln – vor allem aber sorgt Petersilie dabei für zartbitteren Biss, und Zitronenzesten für eine sommerliche Frische“, sagt er. „Wäre das was?“ „Und wie, etwas, das nach Sommer schmeckt, kommt mir sehr gelegen – wo er doch kürzlich weggezogen ist“, sagt sie. Und Wulnikowski fragt sich, wie es nur sein konnte, dass sie dieselbe Idee wie er gehabt hatte, und dann schiebt er seinen Einkaufswagen beiseite und hilft ihr auf.
Man nehme:
400 Gramm Salsicce (frische italienische Schweinswürste), ersatzweise rohe Schweinsbratwürste, bevorzugt vom Fleischer und nicht aus irgendeinem Supermarkt-Kühlregal – oder grobe vegane Bratwürste/Bällchen auf veganem Hack, um das Ganze fleischlos zu machen. Und wer lieber auf fertige Wurst wegen obskurer Zutaten verzichten möchte, kann auch 350 Gramm Fleisch entweder selbst kuttern oder als frisches Hack beim Fleischer kaufen, es mit einem halben Teelöffel Fenchelsamen, einem Teelöffel Salz, etwas Pfeffer, einen Hauch Rosmarin, Piment, Thymian, einem Eigelb, einer gepressten Knoblauchzehe und zwei eingeweichten Toastbrotscheiben zu eigener Klopsmasse vermengen.
Olivenöl
4 dicke Scheiben Pancetta oder 100 Gramm Schinkenwürfelchen (zum veganisieren bietet sich eine Handvoll
Meersalz und frisch gemahlener schwarzer Pfeffer
500 g Linguine
4 große Eigelb (möglichst von Bio-Eiern)
1 Becher echte oder vegane Sahne (200 ml)
150 g frisch geriebener Parmesan
abgeriebene Schale von 1 unbehandelten Zitrone
2 Stängel frische glatte Petersilie, gehackt

Wer fertige Würste gekauft hat, schlitzt sie am besten auf, drückt das Wurstbrät heraus und rollt daraus tischtennisballgroße Kugeln. Wer die Masse selbst macht (siehe oben), kann diese ja in ebenso große Kugeln formen – indem man einen gehäuften Esslöffel auf eine Handfläche legt und sie dann zwischen den Handflächen rollt.
In einem großen Topf Salzwasser zum Kochen bringen. So bald es kocht, die Linguine darin al dente garen – das dauert meist knapp zehn Minuten (aber das erklärt sonst auch die Packungsanleitung).
Parallel einen Schluck Olivenöl in eine große Pfanne geben, sie auf mittlerer Hitze heiß werden lassen und dann die Wurstbällchen langsam darin braten, bis sie rundherum gleichmäßig goldbraun sind. Den Speck einige Minuten mitschmurgeln lassen, bis er goldbraun wird. Von der Platte ziehen, sobald es soweit ist, damit nichts scharf anbrennt oder verkohlt und bitter wird.
In einer Schüssel die Eigelbe mit der Sahne, gut der Hälfte des Parmesans, den Zitronenzesten/der abgeriebenen Zitronenschale und der Hälfte der vorher gehackten Petersilie mit einem Schneebesen gründlich verschlagen.
Die Pasta abseihen, sobald sie fertig gekocht ist. Bevorzugt ein bisschen Nudelkochwasser auffangen. Die Nudeln dann zurück in den Topf geben (nicht zurück auf die Platte), die Sahne-Ei-Käse-Sauce darübergeben, einen guten Schluck Nudelkochwasser ebenfalls und Bällchen und Schinkenwürfelchen oder Pilzschnitze darunter rühren. Ein paar Minuten unter gelegentlichem Rühren warten, bis das Ei gestockt ist. Mit Salz, Pfeffer und einer Prise Zucker abschmecken.
Dann sofort auf Tellern verteilen, den Rest des geriebenen Parmesans sowie der gehackten Petersilie darübergeben. Buon appetito.
Zum Gericht passt hervorragend dieser Salat.
Musik zum Menü
Die Zartheit des Herbstspiels in seiner schlichten Wonne und des sommerlich-satten Gerichts in seiner raffinierten Einfachheit spiegelt sich schön in dieser kleinen Lieblingsballade von mir der leider aus der Musikwelt verschwundenen fantastischen „The unwinding hours“.
Was für eine wunderbare Geschichte. Ich hätte ewig weiterlesen können….
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Ich hatte schon ein schlechtes Gewissen wegen der Textmenge 🙂
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Ganz lieben Dank Dir
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Künftig werde ich wieder in den Evenburg-Park gehen. In der Hoffnung, Herrn Wulnikovski zu begegnen. Ein alter Bekannter, den ich schon so sehr vermißt habe. Vorerst probiere ich mal sein italienisches Rezept.
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Ich finde es super
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Schön, dass Wulnikowski den Weg aus Absurdistan hierher geschafft hat ❤️
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Wulni ist hier auch vorher sogar schon einmal aufgetaucht. 🙂 Ich soll Danke von ihm sagen. 🙂
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https://nimmersatt.blog/2021/04/30/die-trostlichste-suppe/
Hier hat er schon seine Aufwartung gemacht 🙂
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Schöne Bilder, nette Geschichte, leckere Pasta!
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Das freut ich sehr. Ganz lieben Dank! 🙂
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Ganz toll geschrieben und die Bilder sind spitze!
LG Wilma
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Was für ein wunderschönes Rezept. Und was für stimmungsvolle Fotos.
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Danke für diese kurze Reise weg von meinem Auftrag hier vor Ort und hin in eine von wunderbarer Musik untermalte Nebeltraumwelt. Das tut gut 🙂 Und die Nudeln schmecken sicherlich toll und werden bei Gelegenheit nachgekocht.
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Nutze die Gelegenheit. 🙂
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Zumindest genieße ich jetzt die stimmungsvolle Musik- zum Nachkochen hat leider wieder mal die Zeit gefehlt. Aber auch das wird noch!
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Die rennt ja nicht weg. 🙂
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Hallo Ole,
Deine Carbonara-Variante klingt sehr, sehr lecker.
Tatsächlich hat Jamie O. mehrere Carbonara-Rezepte. Das, was ich nachgekocht habe, ist tatsächlich mit „normaler“ Bratwurst.
Liebe Grüße
Britta
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Hej Britta,
hätte ich mir denken können. 😀 Bei gefühlt 512 Kochbüchern, die er verfasst hat (ich besitze sieben, glaube ich), war das zu erwarten. 😀 Das Rezept hier liebe ich sehr. Auch wenn ich es tatsächlich in der Regel mit normalen Bratwürsten mache, weil man Salsicce in Ostfriesland nicht immer bekommt und das mindestens ähnlich lecker ist. Ist tatsächlich seit Jahren ein Lieblingsgericht von mir. Manchmal mendele ich dann ein paar Fenchelfrüchte gemörsert dazu.
Ganz liebe Grüße, hab nen tollen Tag!
Ole
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Bei uns in Westfalen ist es mit dem Erwerb von Salsiccia ebenfalls eher Glücksache. Sie wird manchmal an der Metzgertheke „unseres“ Rewe angeboten, dann schlage ich zu und friere auch etwas ein.
Dir auch einen tollen Tag.
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Hier und da gibt es die hier beim Edeka, immer wieder auch mal bei Lidl oder Aldi, aber die zumindest fand ich eher kaum lecker, im Aldi-Fall auch tierisch versalzen. Ein italienischer Feinkost-Metzger oder so wäre was Feines (und dann wiederum mutmaßlich auch sehr Teures). Grobe normale Bratwurst ist aber ja ein prima Ersatz, dann auch gern vom guten Metzger. Und ein paar Fenchelfrüchte oder -samen kann man ja immer noch dazustreuen. 🙂
Ganz liebe Grüße nach Westfalen!
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Hier und da gibt es die hier beim Edeka, immer wieder auch mal bei Lidl oder Aldi, aber die zumindest fand ich eher kaum lecker, im Aldi-Fall auch tierisch versalzen. Ein italienischer Feinkost-Metzger oder so wäre was Feines (und dann wiederum mutmaßlich auch sehr Teures). Grobe normale Bratwurst ist aber ja ein prima Ersatz, dann auch gern vom guten Metzger. Und ein paar Fenchelfrüchte oder -samen kann man ja immer noch dazustreuen. 🙂
Ganz liebe Grüße nach Westfalen!
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