
Es war einer dieser Cyankali-Tage“, raunte Marcus Wiebusch, während er aus den Lautsprechern in Wulnikowskis Küche über die Ankunftshalle des Hamburger Flughafens sang – und Wulnikowski überlegte, was er sich denn noch schnelles zu essen machen könnte. Denn sein Magen knurrte fast so laut, dass er die Musik kaum noch hörte. „Es war wieder eine dieser Sardellenbüchsenwochen“, konterte Wulnikowski, der gerade pappschlapp durch den Feierabend taumelte: Viel zu dicht gepackt, innerlich tot – und ein wenig versalzen fühlte sein Leben sich auch an. Mitunter auch, und hier passte das Sardellenbüchsenbild nicht mehr, als habe ihm jemand einen Staubsauger ans Ohr gedrückt, um ihn darüber auszusaugen. Eine Metapher, so schief wie sein gequält aufgesetztes Lächeln, das er bis zur Wohnungstür trug: Es hatte geklingelt.
Vor der Tür seine Nachbarin: Ada von schräg gegenüber. Ihre rostroten Haare standen wirr ab, als habe irgendjemand einen Luftballon drübergeschrubbt.
„Ich will Schnaps! Und irgendwen in die Luft sprengen“, sagte sie. „Oder irgendwas anzünden.“
„Na, das ist ja ne Begrüßung.“
„Machst du mit?“
„Hängt davon ab, wen“, sagte Wulnikowski und sein schiefes Lächeln rückte sich gerade.
„Keine Ahnung. Alle?“
„Das sind ganz schön viele.“
„Ja. Machst du mit?“
„Warum denn überhaupt?“
„Ich war in der Stadt, wollte Weihnachtseinkäufe erledigen. Aber egal welchen Laden ich betreten habe, egal in welchen Gang ich mich geschoben habe: Überall war alles verstopft, überall standen alle im Weg. A L L E !“
„Sardellenbüchsenwochen“, murmelte Wulnikowski.
„Was?“
„Ach nichts.“
„Also: Machst du mit?“
„Ich… ich… weiß nicht…“
„Wir können auch eine Massenkarambolage verursachen.“
„Genügend Leute dafür sind auf jeden Fall draußen.“
„Stimmt“, sagte Ada, ballte ihre Hände zur Faust und sagte: „Grrrrr.“
„Doch erstmal nen Schnaps?“, fragte Wulnikowski.
„Nen doppelten! Nein, dreifachen! Fanta-Wodka!“
„Klar“, sagte Wulnikowski, bat sie herein und verschwand in seiner Vorratskammer.
Ada zog ihre Schachtel Zigaretten aus der Jackentasche, schob eine zwischen ihre Lippen, steckte sie an, zog, zog, zog, hüllte sich in dicke Rauchwolken. Inzwischen war das Kettcar-Album vorwärts geschnurrt, jetzt sang Marcus Wiebusch über „Benzin und Kartoffelchips“, was seltsam passte, wo Ada doch ihre pyromanische Ader entdeckt hatte. Immerhin: Irgendwas hatte sie jetzt ja angezündet. Sie, die offenbar selbst einen dieser Cyankali-Tage gehabt hatte.
Wulnikowski kam aus der Vorratskammer zurück. „Wodka und Fanta sind aus, Korn und Sprite hätte ich aber noch“, sagte er.
„Auch gut! Hauptsache knallt!“
Er goss ein, es schäumte leicht, Kohlensäure kribbelte in seiner Nase.
„Hast du Hunger?“
„Scheunendrescher Hilfsausdruck“, sagte Ada und schickte eine besonders große Wolke zur Zimmerdecke.
„Ich mach uns was“, sagte Wulnikowski.
„Und was?“, fragte Ada. „Ich will was Heißes, Fettiges, etwas, das knallt. Überback mir was!“
„Ich hab noch Mohnbrötchen da“, sagte Wulnikowski!
„Ich will was Überbackenes!“
„Die kann man doch überbacken! Alles, worauf man Käse packt, kann man überbacken!“
„Schlaumeier! Und was hauste drauf? Also, außer Käse, jetzt?“
„Ich hab nicht mehr viel da. Wollte eigentlich gleich noch einkaufen. Rote Zwiebeln und Käse hab ich aber noch.“
„Hm.“
„Hm?“
„Büschn öde, oder?“
„Ich hab auch noch Himbeer-Senf.“
„Himbeer-Senf?“
„Ja. Das ist ein bisschen, als könnte man damit Essen verzaubern.“
„Wie verhexen jetzt?“
„Ja, aber zauberhafter. Weil: Hauste irgendwas mit Käse aufs Brot, überbackst das… alles gut. Grundsolide und knusprig. Aber streichste auf die Brotscheiben oder Brötchenhälften ein bisschen vom Himbeersenf: Heidimarokko, Aromenknaller!“
„Und wo kann man den kaufen?“
„Hab ich selbst gemacht.“
„Wie das denn?
„Zusammengerührt. Idee hab ich in nem Kochbuch gefunden, ,Tanja vegetarisch‘ von der Sterneköchin Tanja Grandits.“
„Ich kauf ja gern Himbeeren, die ja zu den verführerischsten Früchtchen gehören, die man im Supermarkt zu treffen können. Aber unter den Beeren dieser Welt findeste ja schon kaum beleidigtere Leberwürste.“
„Wieso ’n das?“
„Kaum guckst du die kurz nicht an oder kümmerst dich nicht gleich um sie, werden sie ungenießbar.“
Ada grinste.
„Und ich hatte grad wieder welche gekauft. Und bevor ich den Zeitdruck wie nen Knüppel im Nacken spüre, dachte ich, mach ich doch mal was Neues draus. Hält dann auch länger. Und verbindet sich ganz schön geil mit Senf und Honig und Salz und so. Das wirft man alles zusammen und püriert das oder verrührt es einfach mitm Löffel. Aber das dünn aufs Brot geschmiert, verwandelt so’n Toast plötzlich in was Besonderes. Vorher einfach so, hmjoa, mit Käse überbacken, geil wie immer. Plötzlich aber: Wow! Tanzen da fruchtige Noten um die Geschmacksknospen, fegt da spannende Säure durch den Saal, die von Süße aufgefangen wird wie…“
„Wie Baby von Johnny in Dirty Dancing?“
„Genau. Aber: Scheißfilm!“
„Ja!“
„Ich habe eine Wassermelone getragen.“
„Haha.“
„Wusstest du übrigens, dass Himbeeren zu den Rosengewächsen gehören. Schmeckt man auch, finde ich.“
„Echt? Nee! Wusste ich nicht. Aber nur zu, hau drauf, deinen Himbeersenf!“
Wulnikowski tat, wie ihm geheißen. Halbierte die Mohnbrötchen, bestrich sie mit dem Himbeersenf. Hackte schnell eine rote Zwiebel klein, legte ein paar Scheiben Cheddar dazu, schob sie in den Ofen. Ada steckte sich noch eine Zigarette an, Wulnikowski goss Korn und Sprite nach. Beide stießen an, plauderten. Wenige Minuten später verstummten beide. Nur ein kurzes „Mmmmhh, geil“ entfuhr Ada, während ihr Krümel aus dem Mundwinkel purzelten. „Hammer! Ich hätt‘ gesagt, du brauchst hier mindestens noch Schinken und Tomaten und Salat und wasweißich für Chichi. Aber: Das ist so schlicht, aber so gut, dass das mit dem In-die-Luft-Sprengen noch warten kann. Lass uns einfach hierbleiben.“
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Selbstredend macht sich der Himbeer-Senf auch super in Salat-Vinaigrettes, zart an ein Stück Steak gestrichen, zu Bratwurst und allem weiteren, zu dem man gern Senf essen könnte. Und natürlich kann man so ein Brötchen oder Sandwich sehr viel üppiger belegen. Aber besser ist es in der Regel allermeist, wenn man doch noch ein wenig Himbeersenf dazugegeben hat. So simpel, so gut.

Das braucht Ihr für den Himbeersenf
Für ein kleineres Gläschen:
125 Gramm Himbeeren (das ist ja die aktuell verkaufte Schalengröße)
1 gehäuften Esslöffel Senfsaat, gemahlen (oder frisch gemörsert)
3 Esslöffel Senf (ob eher mild, oder dann doch schärferen Dijon-Senf, entscheidet Ihr nach Vorliebe)
1 kräftige Prise Szechuan-Pfeffer, frisch zerstoßen (normaler schwarzer Pfeffer geht natürlich auch, frisch gemahlen – Kubebenpfeffer ist auch reizvoll)
2-3 Esslöffel guten Apfelessig
5-6 Esslöffel Honig
1 kräftige Prise Salz
Und für die Sandwich-Variante hier zusätzlich:
pro Nase:
1 Mohnbrötchen oder zwei Scheiben Toast oder was Ihr da habt an Brot
1 Esslöffel Himbeeressig
1/2 rote Zwiebel, in feine Scheiben geschnitten
2 Scheiben Cheddar oder entsprechend viel Bergkäse
1 kräftige Prise Pfeffer (Szechuan oder Kubeben machen es auch hier spannender, schwarzer reicht völlig)
Salz
eventuell einen Schuss Olivenöl

Und wie macht man den jetzt?
Die einfachste Variante: Alle Zutaten einfach kalt zusammenrühren und im Zweifel nochmal pürieren. Zack. Frisch, würzig, prima.
Aber: Noch ein bisschen besonderer wird der Senf, wenn man noch ein paar Minuten mehr Zeit aufwenden mag und wenn man es doch ein wenig köcheln lässt.
Heißt: Den Honig in einen Topf geben und sanft auf niedriger Stufe erwärmen, bis er leicht abzudunkeln beginnt.
Währenddessen schonmal das Senfpulver, den Senf und die Hälfte des Apfelessigs in einer Schüssel miteinander tanzen lassen und zu einer glatten Masse verrühren.
Die Himbeeren, den restlichen Apfelessig, eine ordentliche Prise Salz und den Pfeffer, welchen immer Ihr nehmt, zum schmurgelnden Honig hinzugeben und etwa eine Viertelstunde zart vor sich hinköcheln lassen.
Dann wird das Ganze von der Platte gezogen, mit der vorher zusammengerührten Senfmasse vermengt, vielleicht nochmal glatt püriert und in ein vorher sterilisiertes Glas gegeben. Hält sich so mindestens einige Tage. Konkrete Mindesthaltbarkeitsdaten mag ich vorsichtshalber nicht liefern. Probiert einfach vorsichtig und stellt Reste gut zugeschraubt kühl in den Kühlschrank.
Fürs Sandwich jetzt:
Die Zwiebel(n) mazerieren. Das heißt, Ihr schnippelt sie in feine Scheiben, legt sie in eine Schale und berieselt sie mit Salz und beträufelt sie mit Himbeeressig (Balsamico geht auch, aber Himbeeressig ist feiner und passt hier aromatisch einfach noch besser). Wer mag, streut auch hier nochmal ne ordentliche Prise zerstoßenen (Szechuan-, Kubeben- oder schwarzen)Pfeffer drüber. Das Ganze dann etwa ne Viertelstunde ziehen lassen. Das geht super, während die Himbeer-Apfelessig-Honig-Masse vor sich hinköchelt.
Brötchen halbieren, falls Ihr welche nehmt. Oder Toast- oder andere Brotscheiben hinlegen. Die Innenseiten mit dem Himbeersenf bestreichen, die mazerierten Zwiebeln dazugesellen, Käse drauflegen und zusammenklappen. Das Ganze dann entweder für 10 bis 15 Minuten in den Ofen schieben, bis sie golden sind, oder mit einem Spritzer Olivenöl oder einem Schnups Butter in der Pfanne auf niedriger bis mittlerer Stufe von beiden Seiten anbraten, bis sie golden sind.

Musik zur Geschichte
„Es war einer dieser Cyankali-Tage“… Heute bleiben wir mal eng an der Geschichte. Hier der Opener vom Kettcar-Album „Ich vs. wir“.
Mama sagte: Achte auf Deine Gedanken, denn sie, sie, sie, sie werden Deine Worte und mit ein paar Worten fing das Ganze an: „Benzin und Kartoffelchips“, ebenfalls von Kettcar.
Und, versteckt im Subtext, noch ein alter Hit vom selben Plattenlabel, andere Band: „Korn und Sprite“ von Tomte.
Moin Ole,
dein Himbeersenf liest sich sehr lecker. Eine sehr gute Idee ist das. Und schwupps hat man auch ein leckeres, kleines Geschenk als Mitbringsel. Danke für die Inspiration.
Liebe Grüße, Karin
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Ahoi Karin! Mir schmeckt er köstlich. Und als Mitbringsel ist das tatsächlich auch sehr prima. Hab nen schönen 2. Advent!
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Mhmmm…klingt das köstlich. Funktioniert das denn auch mit schockgefrorenen Tiefkühlhimbeeren? Ada klingt sehr sympathisch und quecksilbrig. Bestimmt kann sie auch kunstvolle Rauchkringel und Qualmosterhasen, die anmutig durch die Kringel hopsen. Ich liebe ja Überbackenes, weil in der Regel darunter ein Geheimnis verborgen ist. In diesem Fall wird das Geheimnis oben drauf geschmiert. Werde ich auch probieren. Wulnikowski erscheint mir als ein sehr feiner und fürsorglicher Freund für Ada und er versteht was davon, kulinarische Sprengsätze mit Euphoriegarantie zu bauen. Fetzt! Lieben Dank Dir✨
Mit adventösen Grüßen aus dem angedeuteten Knicksenkflug
Amélie
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Das geht auch mit TK-Himbeeren, klar. Man sollte sie nur auftauen. Oder im Honigbad auf Betriebstemperatur bringen. Und sie sind ja eigentlich das größere Geheimnis, denn man sieht sie bei sauberem Schmieren nicht, nur der Käse lugt verstohlen zwischen den Scheiben hervor. Und der oder die Unwissende beißt rein und raunt „par bleu“. 🙂
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Und Sprengsätze mit Euphoriegarantie sind die besten, und bei Ada kannst Du nur recht haben. 🙂
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Toll und zum Verlieben, dein Himbeersenf! Ich werde das im nächsten Sommer mit Waldhimbeeren probieren, das kitzelt vielleicht noch (!) ein wenig mehr Geschmack heraus 🙂
Alles Liebe!
Maria
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Waldhimbeeren! Du Glückskind! Brombeeren kriegste hier an Wegesrändern aber walde Wildhim… nein, wilde Waldhimbeeren nicht. Alles Liebe zurück! Sommer wär jetzt toll!
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Sehr geiler Beitrag. Muss ja einräumen, dass ich in letzter Zeit nicht so die Zeit gefunden habe deine klasse Beiträge zu lesen. Ich finde Blogs mit Rezepten gibt es wie Sand am Meer, aber dem Konzept einen frischen Spin zu geben und mit einer kleinen Story und einer tollen Musikauswahl zu verfeinern, ist echt grenzgenial. Weiter so!
Da hab ich echt Bock (als ambitionierter YT Neuling) was ähnliches mit einem Koch-Kanal auszuprobieren und mich von deiner Genialität anstecken zu lassen 😀
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Donnerknispel! Du tust was für meine Gesichtsdurchblutung! 😀 Und meine kleine Hoffnung war tatsächlich, dass mein winziger Blog sich so ein bisschen abheben kann. Selbst wenn das Konzept all die scrollunwilligen Ungeduldigen verprellt, die nur schnell ein Rezept haben und kochen wollen.
Bin gespannt, was Du aushecken wirst!
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