
Erste Male können unvergesslich sein. Das Herz rast, pocht fast wirbelnd, die Halsschlagader bebt. Alles Erleben wird umso tiefer empfunden, voller Intensität, die ganz tief trifft und umso länger erinnert wird. Im Bestfall sind es aufregend schöne Erlebnisse, die bewegen. Jetzt gibt es für mich wieder eins dieser ersten Male: Es ist Fußball-WM, die deutsche Elf kickt, doch anstatt wie bislang immer meine Blicke gebannt an den Bildschirm oder die Leinwand zu heften, anstatt mitzufiebern und Spieler, die mich nicht im Ansatz hören können, anzubrüllen, anstatt mitten im Trubelpulk umherzuspringen wenn ein Schlenzer von „uns“ ins Netz knallt, ist mir all das herzlich egal geworden. Es ist WM, die deutsche Elf spielt, und ich? Fange an, einen Text zu schreiben. WM heißt hier diesmal nicht „Weltmeisterschaft“ sondern „will Milchreis“. Die selbstherrlichen Strippenziehereien und Bevormundungen der Vetternwirtschafter, die unverhohlene Dreistigkeit des Treibens, die abgehobene Weltfremde hat mich schon über Jahre ermüdet, so viel Leidenschaft auch in mir lodert.
Dabei ist fast verblüffend, wie zielsicher mich mein Unterbewusstsein während des Länderspiels ausgerechnet zu Milchreis geleitet hat, ist die Süßspeise doch offenbar (spätestens nach Nutella) ein großes Ding, ja sogar Ritual der Nationalelf, wie deren Koch mit dem wie der Topf auf den Deckel passenden Namen Anton Schmaus kürzlich dem Tagesspiegel verraten hat. Mehr noch, wer sucht, findet auf der Seite des DFB sogar ein eigenes Milchreis-Rezept.
Und während es den FIFA-Funktionären gelungen ist, etwas grundsätzlich Spannendes und Reizvolles in etwas zu verwandeln, das ich gleichgültig zur Kenntnis nehme, versuche ich das Umgekehrte: zu zeigen, wie aufregend, besonders und umwerfend der so oft als langweiliges Kinderessen belächelte Milchreis sein kann, wenn man ihm nur die Chance dazu gibt.
Milchreis, der süße kleine Halbbruder des von Gourmets verehrten Risotto, ist vielleicht auch allzu oft einfach lieblos gekleidet worden. Während das Risotto von aufregenden Aromen umgeben sein kann, von getrockneten Tomaten über raffiniertes Pesto, Pilze mit Kaffee, von feinwürzigen Kräutern überstreut, mit parmesanigem Umami-Überschwang erfüllt, mit scharfer Wurst und Erbsen aufgemischt, mit geröstetem Fenchel, Gorgonzola, Walnüssen und ofengegarten Birnen oder sogar Maracujas hochgejazzt, versagt so mancher dem Milchreis selbst schon die kleine Prise Salz, die die Süße einrahmt und zugleich betont, ganz zu schweigen von hauchzarten Säurenoten, etwas Schärfe, bissigen Bitterstoffen, keckem Pep. Der Fantasiereichtum des Großteils der Menschheit scheint bei Milchreis zu versiegen, und vielleicht streut irgendwer noch ein wenig Zimt und Zucker drauf, vielleicht reicht die Liebesmüh noch für heiße Kirschen. Und wenn es extravagant wird, vielleicht für etwas Mango mit Limette – oder, vielleicht noch gewagter, für ein fruchtig-fetziges Chutney aus Cranberrys.
Eine Schale rohe Cranberrys frisch essen, ist ungefähr so wohltuend wie eine Flasche Tabasco auf Ex trinken: Bei Cranberrys implodiert womöglich irgendwann die Mundhöhle, derart sauer und bitter sind die wunderroten Beeren. Getrocknet und massiv gezuckert liebe ich sie im Müsli, aber jetzt reizte mich, auch mit den frischen Beeren was anzufangen, als ich sie im Supermarkt erblickte. Und nahm einfach mal zwei Schalen mit. Vom Timing her passte es auch (bis ich zu lange für diesen Text brauchte), weil Cranberry-Sauce eine der typischen Beilagen auf den überbordenden Thanksgiving-Festtafeln in den USA ist, das vorgestern wieder gefeiert wurde. Nur: Hier hatte niemand die Absicht, einen Truthahn zu rösten (geschweige denn eine Mauer zu errichten).
Und weil in all der nassen Herbstkälte, die sich in der nordwestdeutschen Tiefebene auch dreist unter Mänteln und dicken Pullis hindurchmogelt und in die Hüfte beißt, auch ein wenig Schärfe und Wärmendes gut tut, wollte ich die Cranberrys zu einem Chutney verarbeiten, in dem Chili lustvoll zündelt, ein wenig Granatapfelsaft die raffiniert-süße Fruchtigkeit des Orients herbeizaubert, etwas Sojasauce vollmundiges Umami beisteuert und das Ganze vorm Abdriften ins allzu Süßliche rettet, eine Prise Salz dabei mithilft, und frisch gepresste Orangen der feurigen Chili-Wildheit sanfte Milde entgegensetzen. Auch ein wenig Cayenne-Pfeffer tobt durchs Gericht, das angelehnt ist an ein wundervolles Rezept von Nik Sharma. Eigentlich wollte ich für noch mehr Umami und Komplexität noch ein, zwei Stücke dunkle Schokolade hinzugeben, aber irgendwie hatten Wichtel die wohl über Nacht aufgefuttert.
Und so warf ich den Herd an, die Zutaten in einen Topf, ließ auch noch Rohrzucker hineinrieseln, das Ganze aufkochen (rühren hilft, wenn wie Äpfel stecken auch Cranberrys voll eindickendem Pektin) – und war am Ende hingerissen. Und bin es immer noch. Zumal diese Sauce nicht nur famos zu Milchreis mundet, sondern auch statt Preiselbeermarmelade ziemlich sicher schwedische Kötbullar veredeln kann, reifem Käse ein raffinierter Gegenpart sein kann, auch anderen Fleisch- und Gemüsegerichten dazugekleckst zusätzliche Dimensionen verleihen kann und sie auch als aufregend köstliche Marmelade auf dem Frühstücksbrötchen taugt. Sage ich, ohne irgendwas davon mit Ausnahme vom Milchreis getestet zu haben. Aber ich habe da so ein Gefühl, und es ist ein gutes.

Das braucht Ihr für den Milchreis (in zwei Varianten)
Für veganen Kokos-Milchreis
1 Dose Kokosmilch (à 400 Gramm)
1/2 Liter Wasser
250 Gramm Milchreis
1/2 Teelöffel Salz
3 Esslöffel Rohrzucker
2 Teelöffel Kardamom
1 Teelöffel Zimt (optional)
Die Schale einer halben Bio-Orange, abgerieben/in Zesten gerissen
Für normalen Milchreis
1 Liter Milch
250 Gramm Milchreis
1/2 Teelöffel Salz
3 Esslöffel Rohrzucker
2 Teelöffel Kardamom
1 Teelöffel Zimt (optional)
Die Schale einer halben Bio-Orange, abgerieben/in Zesten gerissen

Für das Cranberry-Chili-Chutney (eventuell einen Tag vorher machen)
400 Gramm (zwei Schalen) frische Cranberrys
1/2 Liter Granatapfelsaft
125 Gramm Rohrzucker
1 Teelöffel gemahlenen Koriander
1 Teelöffel Chiliflocken
1/2 Teelöffel Cayenne-Pfeffer (optional)
1/2 Teelöffel Salz und 1 Teelöffel Sojasauce
Saft einer Bio-Orange, die Schale vorher abgerieben/in Zesten gerissen (die Hälfte davon landet im Milchreis, die andere hier drin)

So wird’s gemacht
Da das Chutney durchgezogen noch mehr Aromen freisetzt und die Geschmacksknospen noch begeisterter tanzen lässt, kann es sich empfehlen, das einen Tag vorher zu machen. Aber es schmeckt auch frisch prima, keine Sorge.
Das Chutney geht so: Cranberries, Granatapfelsaft, braunen Zucker, Koriander und Chiliflocken/Cayennepfeffer in einem mittelgroßen Topf bei mittlerer bis hoher Hitze zum Kochen bringen. Die Hitze auf ein Köcheln reduzieren und zugedeckt kochen, bis die Cranberries aufplatzen und die Mischung einzudicken beginnt, vielleicht 25 bis 30 Minuten lang. Gelegentlich mit einem Silikonspatel oder Holzlöffel umrühren, damit nichts anbrennt. Vom Herd nehmen, in einen hitzebeständigen, luftdichten Behälter umfüllen und den Orangensaft und die Schale unterrühren. Abschmecken und die Süße oder das Salz bei Bedarf anpassen. Am besten in vorher sterilisierte Marmeladengläser füllen, Deckel drauf, über Kopf stellen, etwas abkühlen lassen und dann in den Kühlschrank stellen. Wer nicht warten mag: Das Zeug schmeckt auch heiß oder warm fantastisch.
Für den Milchreis mag der im Vorteil sein, der einen Thermomix oder Monsieur Cuisine oder wie die Teile so heißen, hat, denn dann kocht das Ganze vor sich hin, ohne anzubrennen, ohne dass man sich den Arm lahm rührt und die ganze Zeit in der Küche zubringen muss.
Jedenfalls: Alle Zutaten gemeinsam in den Topf geben (manche empfehlen, den Zucker erst spät zuzugeben, ich habe das mal probiert, aber weder bei der Konsistenz noch sonst Unterschiede erschmecken können) und auf mittlerer Stufe aufkochen lassen, ehe man danach die Temperatur auf niedrige Stufe verringert und fortan immer wieder mit einem Silikonspatel oder Holzlöffel rührt, damit nichts anbrennt, voraussichtlich eine Dreiviertelstunde lang. Wer eine der kochfähigen Küchenmaschinen nutzt, wirft alles gemeinsam in den Kochtopf und lässt das Ganze 45 Minuten lang bei 85 bis 90 Grad rührkochen.

Musik zum Menü
Dem Widerling Infantino halte ich hier „The infanta“ vom fantastischen Album „Picaresque“ der Decemberists entgegen.
Und wenn hier schon die Früchte verkocht werden, kommt man so ganz dann doch nicht um die „Cranberries“ herum, oder? Aber wo „Zombie“ zu den totgenudeltsten und windschief zerkreischtesten Songs der letzten 30 Jahre gehört, sei es hier „Ode to my family“.
Und dann war da noch dieses kleine unpolierte Schrammelfolk-Juwel namens „Cranberry“ von Hovvdy, das auch prima passt.
Und weil man, während dieses Chutney die Geschmacksknospen trifft, am liebsten die Zeit anhalten und die Pausetaste drücken möchte, gibt’s hier auch noch „Press hold“ von Johnossi.
Die Milchreis- Renaissance 😁 wir hatten neulich auch welchen, ganz einfach im Dampfgarer zubereitet, das geht sehr unkompliziert hausgemachte Bratapfel Marmelade dazu. Dein Chutney klingt super aromatisch!
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Bratapfelmarmelade ist auch ne tolle Idee. Und richtige Bratäpfel könnte Ich ich auch mal wieder machen!
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So schöne Fotos, die Idee ist toll. Liebe Grüße Cornelia
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Das freut und ehrt mich immens. Ich find’s auch saulecker, tatsächlich. Ganz liebe Grüße von der Ems an die Elbe! Ole
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Klingt toll, wobei ich auch der faden Variante mit Zimtzucker und Appelmus was abgewinnen kann. Noch lieber mag ich Grießbrei, weil der schneller fertig ist 😬
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Aber Ole, hier ist die erste Frage beim Jackeausziehen immer „wo schläft der Milchreis??!“ – Meistens im Gästebett, der Topf eingewickelt in (nicht Windeln) Papa Jans Schürze, unter Kissen und Decken… wartet auf alle Schulkinder! Alles zusammen aufkochen und dann für die nächsten Stunden warm einpacken (Thermomix oder Gästebett?!)
Herzliche Grüße!
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