
Wenn der kleine Alessandro zu Besuch kam, in den Ferien schickten seine Eltern ihn gern für ein paar Tage, drückte Nonna Olivia ihn zur Begrüßung an ihren riesigen, in Karoschürzen gehüllten Busen. Sie wohnte in einer kleinen schmalen Gasse in Stinò in Kalabrien, am äußersten Westzipfel des Stiefels von Italien. Oft bebte die staubige Luft in den verwinkelten Gassen vom Geknatter der alten Arbeitsmaschinen der Kleinbauern und von den Motorrollern, auf denen Verliebte in die Berge des zerklüfteten Nationalparks Aspromonte verschwanden mit seiner wilden Kargheit, und manchmal kletterten sie durchs verlassene Hirtendorf Pentedattilo, das in den 60ern von Behörden geräumt wurde wegen Erdbebengefahr – ohne je einen Erdstoß abbekommen zu haben – unterhalb von fünf wie Fingern aufragenden, bizarr verwitterten Sandsteinkegeln. Daher der Name. Dort schickten sie dem Sonnenuntergang Rauchschwaden entgegen. Und manchmal ließen sie Dinge liegen, nachdem sie in der morbiden Einsamkeit Lust aufeinander bekamen.

Im Dorf erzählte man sich, dass es dort oben spukte, vor allem in Vollmondnächten. Und auch wenn Nonna das immer abgetan hatte, so wunderte er sich, warum man denn freiwillig an solch einen Ort fährt. „Komm her mein kleiner Gigi“, säuselte seine Großmutter zur Begrüßung, als er aus dem Auto seiner Mutter kletterte – auch wenn niemand verstand, wie man Gigi von Alessandro ableiten konnte. Und auch sonst nannte ihn niemand so. Und wenn ihr kleiner Gigi zu Besuch kam, schnappte sie sich alsbald ihr Nudelholz, einen fast einen Meter langen dicken Stock, und begann keifend Hühner zu jagen. Durch den Garten, zwischen den Strauchtomaten, im Übermaß behängten Amalfi-Zitronenbäumen und den üppig sprießenden Paprika hindurch, über Schlangenlinien, in denen sich die Contrada Ficarella an halb verputzten Häusern mit rostigen Balkonen vorbei durch die Felsen wand. Und irgendwann, wenn eins der zerrupften Hühner eine falsche Bewegung machte, schnappte Mamma es und erschlug es mit dem Nudelholz. Mehrfach hatte Gigi dieses Schauspiel zwischen den Gardinen hindurch beobachtet.
Und jedes Mal tat das Huhn ihm über die Maßen leid, und dass Nonna ihm danach das verbliebene Gefieder ausriss, um ihm daraus Hühnerbrühe zu kochen oder eine Zitrone in die Höhle im Huhn drückte, wo vorher noch Eingeweide wohnten, ließ ihn still in Tränen ausbrechen. Und ein Kloß steckte ihm im Hals, weil er wusste, dass Mamma – ohne ihn, den kleinen Jungen, je nach seinen Wünschen zu fragen – ihm einen Gefallen tun und etwas ganz besonderes kochen wollte. Jedes Mal kniete Nonna sich nach dem Kochen vor die Mariensäule auf der Piazza Santa Rosa und bekreuzigte sich, um sich für ihren Enkel zu bedanken. Er selbst hingegen brauchte Jahre, um übers Herz zu bringen, dass er Huhn nicht mehr essen konnte, dass er eigentlich gar kein Fleisch verzehren mochte. Oder nicht mehr konnte.
Bis er eines Tages zu Nonna ging und sagte: „Nonna? Ähm…“
Er zauderte.
„Ja, Gigi?“
Er fasste allen Mut.
„Wie wär’s, wenn Du einfach nur Nudeln mit dem Nudelholz machst? Und den Teig damit rollst?“
„Das… das… mache ich doch?!“
„Ja, aber Du jagst damit auch immer die Hühner. Und dann grapschst Du eins und erschlägst es damit.“
„Das tue ich nur für Dich!“
„Aber wie wär’s, wenn Du die Hühner einfach leben lässt?“
„Ma Gigi, wie soll ich Dir dann denn Hühnersuppe kochen oder Brathähnchen zubereiten?“
„Äh… gar nicht?“
„Magst Du die etwa nicht?“
„Du kochst wundervoll, aber…“
„Aber?“
„Ich mag kein Fleisch essen und keine Tiere, die Du mit dem Nudelholz erschlagen hast.“
Nonna zuckte zusammen, wurde ganz blass und drückte ihren Gigi fest an ihre Brust. Tränen kullerten ihr wangenabwärts aus den Augenwinkeln. Sie flüsterte: „Es tut mir leid.“ Und sie versprach ihm: „Nie wieder werde ich ein Huhn für Dich mit dem Nudelholz erschlagen.“
Und dann ging sie in ihren Garten, der so trocken war, dass bei jedem Schritt Staub aufstob. Und plötzlich, als antwortete der Himmel ihren Tränen, fing es an zu regnen, nein, zu schütten. So, wie es seit Monaten nicht geregnet hatte. Und Nonna eilte noch einmal hinein, griff ihre gelbe Regenjacke und ging wieder hinaus, pflückte frische Paprika oder Peperoni, wie sie dort auch heißen, während der Himmel sie duschte. Und ihre Schritte schmatzten im nassen Matsch, und zurück in der Küche warf sie ihre tropfnasse Regenjacke auf den Küchentisch und wusch und zerhackte das Gemüse auf einem Holz-Hackklotz neben der Spüle mit einem Messer, groß wie ein Beil, und sie gluckerte Olivenöl aus Tante Marcellas Hain und dämpfte sie, und sie pflückte die glatte Petersilie, die Gigi so oft mit Koriander verwechselte.
Sie schnitt Zwiebeln fein, presste Knoblauch hinzu, ließ Salz und Pfeffermühlen kreisen, spritzte Balsamico hinzu, rieb Parmesan, warf noch etwas Mascarpone hinein. Und sie füllte einen riesigen Stahlkessel mit Wasser, ging in die Speisekammer, wo sie ihre eigene Pasta in Gläsern aufbewahrte, und sie warf eine ordentliche Ladung ins zwischenzeitlich gesalzene Gebrodel. Und es schäumte kurz, ehe die zeigefingerdicken Röhrchen umhergewirbelt wurden wie im Karussell, rauf und runter und kreuz und quer, bis ihnen schwindelte und ihre Knie und Körper schlotterten und weich wurden.
Und die Fenster beschlugen vom Wasserdampf, und kleine Tropfen perlten hinab als wollten sie mäandernd das Po-Delta nachzeichnen. Und Nonna wirbelte durch den Dampf und rührte und schwang ihre Holzlöffel. Und Gigi stand da und staunte, mit welchem Furor seine Nonna da kochte – selbst wenn er sie in all dem Dunst fast nur noch schemenhaft erkannte. Und dann griff sie zwei Schöpfkellen, holte einen Teller aus dem Schrank, häufte Nudeln und Sauce darauf, rieb noch einmal Parmesan darüber und stellte den Teller gedankenverloren auf ihre Regenjacke.
„Komm Gigi, Essen ist fertig“, rief sie. Und er kam herbeigeeilt, denn so wenig er noch Hühner als Nudelholz-Opfer essen mochte, so sehr knurrte sein Magen. Fast so sehr, dass er in der Lage gewesen wäre, mit 60 Jahren Verspätung ein Erdbeben auszulösen, das Pentedattilo nie erschüttert hatte. Und er schlang, und es schmeckte himmlisch, und wer brauchte bei so einem Aromenwunder Huhn, fragte er sich, und Nonna sagte: „Ich wollte es eigentlich noch schön anrichten. Denn das Auge isst doch mit.“ Und Alessandro sagte: „Aber das ist doch egal. Essen ist doch schon allein deshalb schön, wenn und weil es mit Liebe gekocht ist.“

Das braucht man für die Peperonata
- Je eine rote, gelbe und grüne Paprika, den Samen-„Kronleuchter“ herausgeschnitten, die weißlichen Scheidewände entfernt, in Stücke gehackt
- 3 Esslöffel Olivenöl
- 2 rote Zwiebeln, geschält und in dünne Scheiben geschnitten
- 2-3 Knoblauchzehen, geschält und gepresst oder hauchfein gehackt
- 2 Hand voll frische glatte Petersilie, die Blätter fein gehackt und zum Dekorieren beiseite gelegt, die Stängel ebenfalls feingehackt gelegt
- 2 Esslöffel Rotwein- oder Balsamico-Essig
- 3 Hand voll frisch geriebener Parmesan
- 2 gehäufte Esslöffel Mascarpone oder Ricotta oder saure Sahne oder Crème fraîche (nach Belieben)
- Meersalz und frisch gemahlener schwarzer Pfeffer
- 500 Gramm Pasta (Penne, Rigatoni, oder wonach Euch ist)


So bereitet man die Peperonata zu
Wer mag, kann wie Nonna irgendwas Kariertes anziehen. Wer noch ein Nudelholz in der Hand hält, kann es friedvoll beiseite legen. Sollten Hühner in der Nähe sein: friedvoll weiterpicken lassen.
Wie Nonna die Paprika halbieren (beilgroße Messer sind nicht zwingend nötig), von ihrem Samen-Lüster und den weiß-sehnigen Scheidewänden befreien, die nur bitter schmecken. Die Zwiebeln schälen und fein ringeln oder in welche mundgerechte Form auch immer schneiden.
In einem Topf (am besten mit schwerem Deckel) auf mittlerer Stufe das Olivenöl erhitzen und darin die Paprika, ein paar Helikopterrunden mit Salz- und Pfeffermühle darüber drehend, anschwitzen. Dann den Deckel auf den Topf legen und etwa eine Viertelstunde lang dämpfen lassen. Nonna sagt, das langsame Dämpfen ist besonders wichtig, weil die Schoten erst dann die volle Vielfalt und Intensität ihrer Aromen entfalten.
Dann den Deckel anheben und die Zwiebeln hinzugeben, wieder zudecken und nochmals 20 Minuten lang dünsten. Währenddessen das Salzwasser für die Nudeln aufsetzen und sie al dente kochen nach Packungsanleitung (oder wie die bei Loriot Eier kochende Oma „nach Gefühl“).
Nun wirft Nonna die Petersilienstängelhäcksel (was für ein Wort) hinzu, presst die geschälten Knoblauchzehen hinein und spritzt den Balsamico-Essig hinein, der zischend Dampf aufwirbelt, während er einkocht.
Die Hitze verringern, vielleicht schon ausschalten, wenn der Topf Wärme gut hält. Nun noch ein bis zwei Hände voll geriebenem Parmesan hineinwerfen und ein, besser zwei gehäufte Esslöffel Mascarpone, Ricotta oder saure Sahne hinzugeben.
Die Nudeln abseihen und einen Teil des Pastakochwassers auffangen. Das Kochwasser mit der Sauce vermengen, einrühren, abschmecken und schauen, ob noch ein Hauch Salz zusätzlich nötig ist, vielleicht auch Pfeffer, und dann die Pasta in der Sauce baden lassen. Wer mag, Nonna mag immer, trickelt noch ein paar kleine Spritzer Olivenöl drüber. Dann die Petersilienblätter darüber streuen und den restlichen Parmesan und sofort servieren. Im Zweifel sogar direkt auf einer Regenjacke.

Musik zum Menü
Nonna Olivia liebte das Akkordeon. Oft saß sie auf ihrem rostigen Balkon, wenn ihr Nachbar Salvatore dem Sonnenuntergang entgegen spielte und seine älter gewordenen, aber immer noch flinken Finger über die Tasten tanzten. Besonders gern mochte sie den Titel, der auch so gut zum Gericht passte: „La peperonata“ – auch in der Version von Carlo Venturi.
Und dann ist da noch dieses völlig unbekannte Projekt, „In a few lines“, das dieses hinreißend zurückgelehnte, rau-sinnlich verjazzte Stück eingespielt hat: „Peperonata“.
Nun darf es hier aber schon noch etwas rockiger werden. Weshalb es jetzt ein wenig Rock aus Italien gibt – von den famosen Giardini di Mirò: „Dividing opinions“.
Und dann ist da auf dieser Welt ja auch Musik für die ganz besonders schönen Momente im Leben. Und einer der Songs, die wie gemacht da für sind, auch wenn er hier auf Französisch singt und nicht auf Italienisch, ist „Je te laisserai des mots“ von Patrick Watson.
Lieber Ole,
Es ist schon ungeheuer fein, sich beim Lesen urplötzlich in einer italienischen Küche wiederzufinden mit einer Nonna; die sich auf das Kochen von Seelentröstern versteht. Eingehüllt in Waberwallaschwaden inniger Mutterliebe und Nudeldampf, wird es gleich tüchtig in der Herzhütte. Ein guter Sugo braucht vor allen Dingen mäßige Hitze und viel Zeit, die sich prima mit einer guten Geschichte wie Deiner füllen lässt, lernte ich. Hab es gut, mein Lesedank und einen angenehmen dritten Advent Dir.
Amélie 🤶
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moin Ole,
diese Pasta alla Nonna würde ich jetzt gerne essen. Danke fürs Mitnehmen nach Kalabrien. Und danke für das Kopfkino.
Liebe Grüße, Karin
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So eine schöne Geschichte, da bleibt man richtig hängen. Und dann noch Musik dazu und das Rezept und das Foto. Einfach toll. Hach jetzt hab ich Hunger. Hm. Nur der passende Wein fehlt noch 😉
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Das freut mich riesig! Danke Dir!
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Und dass der Wein fehlt, hat Sinn. Gerade weil ich zwar eine feine Zunge, aber wenig Weinahnung habe, ist das Konzept von Nimmersatt ja von Anbeginn: Ich empfehle keine feinen Tropfen zum Menü, sondern wirke als Musik-Sommelier 🙂
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Ohoh ich bin grad in meine Kindheit versetzt worden, wo ich ein Huhn im Garten meiner Nonna in Italien aussuchen durfte… dem Nonna dann ganz gschwind den Hals abdrehte. Dann sass sie in der Kueche, das Huhn zwischen den Knien und rupfte es. Schoen und gruselig wars!
Lg Wilma
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Das glaube ich sofort! Danke fürs Teilen! Hals umdrehen ist ja bei allem zudem auch deutlich gängiger als Nudelholz beim Hühnertöten. Hab nen wundervollen Start in die Woche!
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Vermutlich würde ich auch auf Hühnchen verzichten müsste ich diese vorher selber erlegen, und in deiner köstlichen Peperonata hat ein Federvieh eh nix zu suchen 😁
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Eigentlich bist Du doch der perfekte Romantiker…Tolle Bilder, tolles Essen und Musik… tolle Mischung.😊
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Du tust was für meine Gesichtsdurchblutung! Und ich finde tolle Bilder, tolles Essen und Musik sind unverzichtbar. Sinnliches und Schönes als Gegengewicht zum Unfug, der mitunter sonst im Leben tobt. Hab ein tolles Wochenende!
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Wären alle wie Du, hätten wir wohl weniger Sorgen…😀
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