
Ich bin noch nie über einen ausgestopften Tigerkopf gestolpert. Glücklicherweise bin ich auch nie mit dem Fuß an einem lebendigen hängengeblieben. Ich habe nie versucht, aus einer Zinnvase zu trinken, in der noch ein Blumenstrauß steckt, um dann Katzen Morddrohungen entgegenzulallen. In der Regel knalle ich auch nicht die Hacken zusammen, während ich salutierend „Skål!“ rufe. Anders als Mister Winterbottom habe ich auch noch nie einen Basar für eröffnet erklärt. An meinem letzten Geburtstag (es war allerdings längst noch nicht der Neunzigste) waren zumindest zwei gute Freunde da, die vielen anderen, die mir am Herzen liegen, waren an dem Tag pandemiebedingt aber ähnlich unsichtbar wie die dahingeschiedenen Herren, die Miss Sophie jahrein, jahraus zum Geburtstag um sich schart. Glücklicherweise leben sie in meinem Fall noch. Bis heute rätsele ich, ob Angela Merkel sich ihre berühmt gewordene Raute, die aneinander gefalteten Hände, nicht bei „Dinner for one“ abgeschaut hat, bei Erzähler Heinz Piper. Andererseits kommt sie gebürtig aus Hamburg. HSV, Raute im Herzen: Wer weiß das schon?

Nun, nach einem Jahr, das in vielem düsterer war als zuvor zart erhofft, das Herausforderungen im Ärmel hatte wie Poker-Schummler Asse, nach einem Jahr, das auch Schönes hatte, aber auch vieles, das unbesehen auf den Dachboden kann, naht dessen Ende. Es darf sich selbst an den Nagel hängen. Nicht aber, ohne den klassischsten Silvester-Klassiker nördlich des Südpols, naja, zumindest zwischen Bodensee und Bodden, zwischen Haithabu und Breisgau, zwischen Vulkaneifel und Sächsischer Schweiz: „Dinner for One“.
Schon früh habe ich mich gefragt, wie denn wohl schmeckt, was Miss Sophie kredenzt bekommt, und die Lust wuchs, es zu probieren. Wie der Koch, ähnlich unsichtbar wie die Freunde, den Schellfisch – north sea haddock – zubereitet? Da gäbe es unsagbar viele Möglichkeiten. Beim Hähnchen als weiterem Hauptgang ebenfalls. Und welche Früchte Butler James zum Nachtisch serviert und wie sie eventuell zubereitet werden? Man weiß es nicht genau. James selbst und all den unsichtbaren Freunden bleibt ja eh nur hochprozentige Flüssignahrung. Doch da ist die Suppe, die James auftischt als Vorspeise. „Mulligatawny soup“. Und die brachte meine kochbegeisterte und neugierige Mutter eines Tages in meinen Jugendjahren bei uns auf den Tisch: Schon der erste Bissen ließ die Geschmacksknospen verwirrt tanzen.
Das schmeckte so anders als alles, was ich kleiner Ostfriese bis dahin kannte. Fruchtig und doch würzig, voll schillernder Aromen, geheimnisvoll. Eine rätselhafte Mischung, in der Curry und Äpfel, mitunter auch Mangos und Ananas sich mit ihrer fruchtigen Süße in den Vordergrund spielen, Ingwer sich den Weg zur Theke beißt, frisch gepresste Zitrone sich mit saurer Miene unters Volk mischt, Schmand hochkochende Gemüter beruhigt und die klassische Salzigkeit einer Suppengrün-Brühe die Ordnung wieder herstellt: Als ob sich eine klassische Hühnersuppe für einen schillernden Kostümball verkleidet hätte. Nichts anderes war diese Suppe aber auch von Anbeginn.
„Mulligatawny soup war eins der frühesten Gerichte, die aus der neuen Hybrid-Küche entstanden, die die Briten in Indien entwickelten und in der sie britische Vorstellungen, wie Gerichte aufgebaut und serviert werden sollten, etwa als Suppen oder Eintöpfe, mit indischen Rezepten verbanden“, hat Lizzie Collingham in ihrem Buch „Curry: A Tale of Cooks and Conquerors“ geschrieben. Und darüber, wie der Name des Gerichts auf den tamilischen Namen für „Pfefferwasser“ anspielt, das ihr zufolge „Molo tunny“ oder laut der berühmten indischen Kochbuchautorin Madhur Jaffrey „millagu-thannir“ heißt. So nennt man in Madras, wo dem Schöpfungsmythos nach der Ursprung der Suppe liegen soll, eine beliebte ayurvedisch heilende scharfe Vorstufe zur Brühe, ein „Rasam“, in dem Wasser mit Pfeffer, Chillies und Tamarinde gekocht worden sein soll. Die Kolonialherrscher des britischen Empire sollen bereits im späten 17. und frühen 18. Jahrhundert verrückt danach gewesen sein Sie anverwandelten es, und dann landeten auch Fleischwürfel und Früchte mit im Topf. Und in der Folge brachten sie das Gericht auf Handelsseglern mit in ihre nebelverhangene Heimat. Bis heute ist diese Suppe eins der beliebtesten Gerichte der „brindischen“ Küche.
Das Rezept, das ich hier vorstelle, ist sehr nah an dem, wie es meine Mutter seit vielen Jahren immer wieder kocht und wie ich es lieben gelernt habe. Andere mögen noch besser schmecken, noch raffinierter sein. Die Varianten dieses Gerichts sind ja zahlreich. In manch anderen findet man eben Mangostücke und Ananas. In diesem nicht. Andere nutzen auch klassische indische Würzpasten, dieses geht seinen eigenen Weg. Aber das Ziel, an dem es ankommt, finde ich unglaublich lecker. Und die Liebe, mit der meine Mutter die Suppe kocht, allein macht sie zu etwas Besonderem!

Was kommt in die Mulligatawny Soup rein?
400 Gramm Hähnchenbrustfilet (möglichst bio)
1 Bund Suppengrün
1 Zwiebel
1/2 Bund Frühlingszwiebeln
2 Knoblauchzehen
1 kleine Knolle Ingwer (etwa 30-40 Gramm)
100 Gramm Butter oder Ghee (Butterschmalz)
1 Lorbeerblatt
2 Nelken
2 Sternanis
2 EL scharfes Madras-Curry (alternativ: welch Curry-Pulver Ihr eben habt)
2 TL gemahlenen Koriander
1/2 TL gemahlene Kurkuma
200 Gramm Schmand
50 Gramm Basmati- oder Milchreis
2 Äpfel
1,5 Liter kräftige Hühnerbrühe (gern selbst gekocht, alternativ aus gekörnter Brühe mit anderthalb Litern heißem Wasser aufgegossen)
Saft einer Bio-Zitrone oder -Limette
1 rote Chili, kleingeschnitten
2 TL gemahlenen schwarzen Pfeffer
Salz
frischer Koriander oder glatte Petersilie
So wird die Mulligatawny Soup gemacht
Die Hühnerbrust gern tags zuvor schon salzen und kühl stellen, zumindest aber frühestmöglich salzen. Vor dem Kochen in Würfel schneiden, vielleicht zwei Zentimeter groß.
Einen großen Topf auf mittlerer Stufe erhitzen. Die Butter darin auslassen und das Fleisch darin anbraten. Suppengrün putzen, schälen und in kleine Würfelchen schneiden, Frühlingszwiebeln putzen, abwaschen und in feine Ringe schnippeln.
Die Zwiebel ebenso wie den Ingwer und den Knoblauch schälen und in winzige Würfelchen schneiden (per Hand, nicht per Küchenmaschine, sonst wird es bitter!). Alles mitdünsten und zart anschmoren.
Kurkuma, Koriander, Curry und Nelken zugeben und das Butterfett die Aromen lösen lassen. Dann den Schmand zugeben (warum so früh, muss ich meine Mutter mal fragen) und fünf Minuten schmurgeln lassen.
Danach die Brühe angießen und zum Kochen bringen. Die beiden Sternanis-Dolden und das Loorbeerblatt in einen Teebeutel stecken, zuknoten und im Gebrodel ziehen lassen. Etwa zehn Minuten kochen lassen. Dann den Reis einstreuen, sorgsam rühren, damit er nicht nur an einer Stelle am Boden festklumpt und weitere 15 Minuten kochen lassen.
Währenddessen die Äpfel putzen und auf hauchfeine Scheiben, Stifte, Würfel oder in welche Form auch immer schneiden, die Euch gefällt, nur dünn geschnitten sollten sie sein. Hineinpurzeln lassen und noch weitere 5 bis zehn Minuten kochen. Das Gebrodel kräftig pfeffern und auch die kleingeschnippelten Chili-Schnitze hinzugeben. Das Gewürzsäckchen herausklauben, bevor das Servieren beginnt; das möchte ja niemand auf dem Teller haben.
Den frischen Koriander (wer den nicht mag, nimmt in diesem Fall vielleicht am besten glatte Petersilie) kleinhacken. Die Suppe am Ende mit Zitronensaft und – falls noch etwas Sattheit im Geschmack fehlen sollte – vorsichtig mit Salz und Pfeffer abschmecken. Heiß servieren, mit den frischen Kräutern bestreuen. Guten Appetit – und noch besseren Rutsch!
Musik zur Suppe
Diesmal könnte ich tatsächlich mal ein Getränk zur Suppe empfehlen. Oder Miss Sophie eins empfehlen lassen. „I think we’ll have Sherry with the soup.“ Ich habe keinen zu Hause. Aber Musik. Und um die geht es hier ja. Vielleicht am Passendsten: Lew Pollacks „Charmaine“ in der Version von Victor Silvester and his Ballroom Orchestra, wie es auch zu Beginn der berühmten NDR-Fassung im Sketch erklingt, nur hier eben in voller Länge:
Doch dann ist da noch das „Brindische“, die Verbindung Britanniens und Indiens. Da passt zum einen wunderbar, wie Cornershop „Norwegian Wood“ der Beatles auf Indisch mit flirrenden Sitarklängen aus seiner skandinavischen Schlichtheit reißen.
Und dann ist da noch, zumindest namentlich mit dem Subkontinent verbunden, der famose „Bombay Bicycle Club“ für all jene, die lieber statt zu postkolonialer Gediegenheit oder zu indifizierten Beatles zu Indie (ohne N) am Ende tanzen wollen, während sie die Suppe kochen: „Always like this“.
Diese wunderbare Suppe habe ich auch schon von deiner Mutter, meiner Freundin, serviert bekommen. Köstlich war sie, aber auch wieder deine Beschreibung, lieber Ole. Schon beim Lesen lief mir das Wasser im Mund zusammen. Vielen Dank für den Ansporn. Gleich heute Abend koche ich diesen Gaumenkitzler
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Liebe Sabine, sorry, dass ich ganz übers Antworten hinweggekommen bin. Ich freu mich immer riesig über Deine Worte und Unterstützung. Solltest Du’s gemacht haben: Ich hoff, es hat einmal mehr geschmeckt. Hab nen tollen Sonntag!
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Erst kürzlich, vielleicht sogar an Silvester, überlegten wir diese Suppe mal zu testen- und schon kommt sie dahergeschwommen- vielen Dank!
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Ich finde, es lohnt sich wirklich sehr. Wenn Ihr’s machen solltet: Lass es Dir hoffentlich schmecken! 🙂
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Boah…das klingt köstlich. Mir läuft gerade das Wasser im Mund zusammen und ich werde das Süppchen so bald wie möglich nachkochen. Danke für die tollen Inhalte hier 🙂
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Es ist mindestens so köstlich, wie es klingt. Und tausend Dank Dir für solch wundervolle Worte! Frohes Neues!
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Moin Ole,
now I’ld like to taste this phantastic soup. Du beschreibst sie dermaßen lecker, ich glaub, die muss ich wirklich mal testen und dein Rezept nachkochen. Zumal wir erst vor ein paar Wochen in GB waren. Dort habe ich mich sogar in Schottland an Haggis gewagt…. das Haggis war sehr gut und wunderbar würzig.
Ich wünsche dir und deinen Lieben einen guten Start in ein hoffentlich gutes, glückliches und gesundes 2023 und ich freue mich jetzt schon auf weitere interessante Posts von dir hier auf deinem Blog. Alles Gute und cheers, Ole.
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Hej Karin! Das freut mich sehr und das wünsche ich Dir auch! Die Suppe liebe ich heiß und innig. Haggis hab ich 2009 mal in Fort William in Schottland gegessen und habe vorab im Geiste schon gewürgt und mit mir gekämpft, und dann kam da etwas auf den Tisch, das fein gewürzt, von angenehmer Konsistenz war, was wirklich „köstlich“ genannt werden kann. Hatte ich im Text eigentlich irgendwas von Haggis geschrieben? Nur, weil der nächste Kommentar nach Dir auch Haggis aufgreift. 😀
Dir und Deinen Lieben ein hoffentlich wundervolles neues Jahr und ich freue mich umgekehrt genauso! Und ich schau zuletzt zu selten bei Dir vorbei, grad zuletzt fehlte leider einfach massiv die Zeit, mit immer wieder krankem Kleinkind, zu viel Arbeit und so… Frohes Neues!
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Ich habe schon 2 Varianten dieser Suppe ausprobiert, beide waren großartig. Deine Suppe sieht auch zum Sofortlöfffeln aus. Und ja, Haggis mag ich auch. Dir ein großartiges Jahr 2023
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Haggis… was habt Ihr heute alle mit Haggis? 😀
Kann definitiv super lecker sein, ja. Und ich hab auch schon mehrere Varianten der Suppe probiert und alle geliebt. Die hier ist für mich besonders, weil es das Rezept meiner Mutter ist, und ich mutmaßlich noch deutlich mehr als andere Menschen ihre Liebe zwischen den Aromen schmecke. 🙂
Ich wünsche Dir auch ein hinreißendes, positiv überraschendes, beglückendes neues Jahr! 🙂
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