
Und dann sitzen wir uns gegenüber, spätnachts, in North Kildonan am Stadtrand von Winnipeg, in einem dieser gottverlassenen Rund-um-die-Uhr-Restaurants. Lauwarmen Kaffee in den Tassen vor uns, der wie Seife schmeckt. Mit dem Zeigefinger zeichne ich Deine Umrisse ins Geröllfeld verschütteter Zuckerkrümel, während ich Zeit totschlage und Hoffnungen in den Wind schieße.
Draußen frisst und zerkaut das neue, wachsende Einkaufszentrum Ackerland, während wir drinnen nach einem fischen, dem wir die Schuld in die Schuhe schieben können. Nach der Antwort darauf, wer für diesen Scheiß eigentlich verantwortlich ist. Und irgendwie stellen wir uns nur noch Fragen, und all unsere Antworten darauf ähneln sich wie Doppelgänger.
Unter flackernden Lichtern füllen wir die Tassen noch ein weiteres Mal mit der Seifenplörre, doch die Verhandlungen stecken fest – so wie Löffel und Untertasse reglos daliegen. Wenn Du fragst, wie ich so verbittert werden konnte, frag‘ ich Dich, was Dich so aufgeblasen hat. Es ist die variierte Wiederholung des Ewiggleichen, wir ecken an denselben Stellen des Kreises an, in dem wir uns drehen. Und all unsere Fragen und Antworten verschwimmen im ewiggleichen Meer.
Nicht einmal mehr in die Augen können wir uns blicken, starren gesenkten Blickes auf unsere Teller, schieben verlegen die Tasse von rechts nach links. Und vielleicht fällt mir in Kürze ja doch noch irgendwas Schlaues oder Nachdenkliches ein, dass ich sagen kann. Doch liegt so viel bleierne Stille über allem, die ich ich nicht ertragen kann; und so summe ich dieses seelenverlorene Lied vor mich hin, das ich von irgendeinem ollen Country-Rockstar geklaut habe, keine Ahnung, wie der heißt. Es ist damit wie mit meinen blöden kleinen Fragen: Alle Antworten klingen gleich. Sag mir, warum ich Dich derart vermissen muss, sag mir, wie es kommen konnte, dass wir vor Gesprächslähmung erstarren! Warum wir uns nur noch in Fragen unterhalten, auf die wir uns die immer gleichen Antworten geben.

Und dann wuchtest Du Dich hoch, im Augenwinkel glitzert es feucht, ziehst Deinen Mantel zu, drehst Dich um und gehst. Und unsere Fragen hängen im Raum wie Rauchfäden und kreisen weiter, oben unter der Decke, wo sie der stoisch drehende Ventilator in immer neue Kreise schickt. Und ich verwische Dein Gesicht auf dem Tisch, schiebe das Zuckergeröllfeld und all die immergleichen Antworten mit dem Handrücken vom Tisch, und Rosie, die Kellnerin fragt: „Was brauchst Du?“ Und ich sage: „Was Warmes, wenn’s schnell geht!“ Und eine gute Viertelstunde später bringt sie etwas, sagt: „Wir hatten nicht mehr, viel. Ich hab‘ das Beste draus gemacht, hoffe ich.“ Und dann schiebt sie Baguettes auf den Tisch, knuspriger Käse umarmt heiß dampfende Crème Fraîche, ein paar zerhackte frische Kräuter, Zwiebelwürfel und Kochschinkenschnitze baden friedlich in einer Hälfte, kleingesäbelte Cashewkerne und Paprika neben weiteren Kräutern in einem zweiten. „Eigentlich wollte ich Dir Flammkuchen machen, aber ich hatte keinen Teig mehr und neuen ansetzen, hätte zu lange gedauert, und dann dachte ich, warum nicht ein Flammbaguette machen, wo da doch noch ein Baguette rumlag?“, sagt Rosie. „Und eigentlich ist das sogar ein bisschen ähnlich wie diese provençalischen Pizza-Baguettes, die man manchmal in Supermarkt-Gefriertruhen findet. Nur das hier ist frisch.“ Und schon beim ersten Bissen hinein schmeckt es ein klein wenig wie Himmel, so düster der mitten in der Nacht draußen vor den Fenstern hängt. Und aus den Lautsprechern klimpert eine Akustikgitarre, und John K. Samson von den „Weakerthans“ singt Verse, bei denen Du hättest wetten können, dass er Dich gerade beobachtet hat. Oder warst Du nur Figur in Versen, die er sich ausgedacht hat? Wer ist hier wer? Bist Du am Ende selbst John? Und wer ist Rosie, und wer hat in Wirklichkeit das Flammbaguette gebrutzelt?

All das, die ganze Geschichte, die auf dem wunderschönen Song „None of the above“ der Weakerthans fußt, ist mein kleiner Beitrag zur feinen Aktion „Cucina povera“ von Zorra und Regina vom Bistroglobal, in der es um schlichte, einfache, eher ärmliche Küche geht. Das hier passt, glaube ich.

Das nimmt Rosie fürs Flammkuchen-Baguette
1 Aufback-Baguette, je einmal hochkant und waagerecht halbiert (frisch oder sogar selbst gebacken ist natürlich noch feiner, aber wenn es schnell gehen soll…)
1 Becher saure Sahne (200 Gramm)
1 gute Prise Salz
1 gute Prise Pfeffer
1 gute Prise Zucker
1/2 Teelöffel getrockneten Thymian (oder 1,5 Teelöffel frisch abgezupfte Blätter)
1 Esslöffel frische Petersilie, gehackt
1/2 rote Zwiebel, feingehackt
1 bis 2 Teelöffel abgeriebene Bio-Zitronenschale und 1 Teelöffel frisch gepressten Saft
und dazu optional
3 Scheiben Prosciutto Cotto (Kochschinken), kleingehackt und in die Sauce gerührt, oder
und/oder
1/2 Paprika, Kerne beiseite geschnipst, kleingehackt
1/2 Handvoll Cashewkerne, ebenfalls gehackt
1/2 Handvoll Cocktail-Tomaten, halbiert
darüber:
Gouda und Parmesan, frisch gerieben

Wie macht man die Flammkuchen-Baguettes?
Mit einem herzhaften Seufzen das Brotmesser ansetzen und das Baguette einmal hochkant und einmal waagerecht halbieren.
Den Ofen vorheizen. 180 Grad Ober/Unterhitze oder 160 Grad Umluft sind ein guter Wert.

Die saure Sahne in eine trostlos dastehenden Schüssel stürzen lassen. Salz in die Wunden reiben, Zuckersüße dazuzwinkern, kurz aufbäumend wütend pfeffern.
Die Zwiebel schälen, halbieren und die eine Hälfte, möglichst ohne in Tränen auszubrechen, in winzige Würfel zerlegen. Begleitet von einem weiteren Seufzer einrühren.

Eventuell (sie liebt mich, sie liebt mich nicht) Blättchen von den Thymianstrünken abzupfen, bis etwa anderthalb Teelöffel zusammen sind. Die – oder einen halben Teelöffel gerebelte, getrocknete Thymianblättchen – wie sanft fallenden Schnee über die saure Sahne streuen.
Der ebenfalls etwas angesäuert dreinblickenden Zitrone ein wenig von ihrer harten Schale abreiben.
Petersilie waschen und behutsam ganz klein schneiden und ebenfalls mit einer Träne im Knopfloch zu den anderen Zutaten rieseln.

Je nachdem, ob Ihr es vegetarisch oder etwas fleischig mögt, Ihr könnt beides natürlich auch kombinieren:
3 Scheiben Prosciutto Cotto kleinsäbeln und ebenfalls dazugeben und/oder eine halbe Paprika, die Kerne im Zweifel beiseitegeschnipst, das weiße Zeugs herausgeschnitzt, ebenso wie eine halbe Handvoll Cashewkerne klein hacken, eine halbe Handvoll Cocktailtomaten halbieren und auch das, was immer davon Ihr nehmt, in die trist vor sich hin trauernde saure Sahne geben.
Das Ganze wie die sich im Kreis drehenden, über allem schwebenden Fragen mit einem Löffel kräftig umrühren und vermengen.
Dann auf die Brotinnenseiten schmieren und zum Trost Käse drüberreiben. Je zur Hälfte Gouda und Parmesan finde ich besonders tröstlich.

Das Ganze auf mittlerer bis hoher Schiene in den Ofen schieben und etwa zehn Minuten backen, bis der Käse golden knuspert.









Die Musik zur Geschichte (und zum Flammbaguette)
Wer genau hinhört, wird schnell merken, dass die Geschichte oben im Text eigentlich vor allem die Geschichte erzählt, die John K. Samson im wundervollen „None of the above“ auf dem Debütalbum der fantastischen „Weakerthans“ erzählt – und die ich, einige kreative Freiheiten habe ich mir genommen – hier übersetzt und ein wenig kulinarisch fortgeführt habe. Aber der eigentliche Star hier ist der Song. Und der darf heute ausnahmsweise allein stehen, so viel weitere Musik hervorragend dazu passen könnte. Aber wir wollen ihm nicht die Show stehlen.
Ein Text wie das Bild „Night Hawks“ von Edward Hopper…
Eine famose Geschichte und dann dieser Schluss, dieser Magentrost! Ja, wow, dachte ich, nach so einem Wackersteingespräch und einem solchen Abgang meines vermutlich geliebten Freundes hätte ich mir einen Johnny nach dem anderen gekippt, mir ein Seil organisiert und mich hinter den nächstbesten Trecker geworfen. Aber nicht Dein Wackerwatz. Der verfügt über einen Adamantiummagen und bekommt von Streit tierischen Kohldampf. Das Beste gegen tierischen Kohldampf ist ein Fischbrötchen. Lecker! Aber wir sind in Amerika und der Flammkuchteig ist aus. Im Land der Freien Improvisateure zaubert die Küchenfee ein Knusperflammkrachbaguette, dass die ganzen Fragen und Antworten beim Reinbeißen auf der Zunge zergehen und ich frage mich die ganze Zeit: wieso ist ihm das Essen erst so spät eingefallen? Erst als sie weg war? Wieso knallt er ihr stattdessen Schlager um die Ohren. Immer dieselben Fragen. Und immer dieselben Antworten: Keine Ahnung und davon so viel wie Zuckergeröllkrümelchen auf dem Tisch.
Danke lieber Ole.
Wieder lecker Lese- und Lauschfutter.
Liebe Grüße
Amélie
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Vielleicht ist es mit der Geschichte ein ganz kleines bisschen wie mit Mozarts Requiem: Das Komponisten-Genie starb ja, als erst zwei Drittel des Auftragswerks fertig waren, und Joseph Eybler sowie vor allem sein Schüler Franz Xaver Süßmayr haben das Werk dann posthum vollendet und fertiggestellt, gemeinsam mit Constanze Mozart. Mir liegt fern, mich mit Genies messen zu wollen, aber ähnlich ist es vielleicht insoweit, als auch hier zwei Drittel der Geschichte eigentlich nicht aus meiner Feder stammen, sondern aus der von John K Samson, als Songtext – und sie nur von mir ins Deutsche übersetzt worden ist. Und ich dann, um einen kulinarischen Bogen zu einem Rezept zu schlagen, die Geschichte noch weitergedreht habe. So dass sie hoffentlich immer noch schön ist, dadurch natürlich aber einen anderen Dreh bekommen hat. Und mir selbst schlüge so ein Gespräch auch kräftig auf den Magen. Aber es gibt ja Wackerwatze. Insofern… 🙂
Und Fischbrötchen ess ich auch gegen Heißhunger irgendwie eher selten. Könnte ich vielleicht mal häufiger tun. 🙂
Warum der Hauptfigur der Hunger so spät eingefallen ist? Man müsste nachfragen. Vielleicht, um nicht die bleischweren Schweigepausen zu durchschmatzen, weil das dann deutlich schneller auffällt? 🙂
Ganz liebe Grüße!
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Du hast die traurige Geschichte gut und versöhnlich weiter geschrieben. Und ist der Magen versöhnt, geht es dem Geist auch schneller besser. Fischbrötchen schmecken nur bei Euch. Darum sind sie so ein Sehnsuchtsding für mich, von dem ich träume, wenn mir mal blümerant wegen Kummer ist. Diese Baguettes oder sehr gerne auch überbackene „Seelen“ sind da eine feine Alternative. Und danke für das Mozartwissen. Wieder was gelernt👍
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Lieber Ole, deine Geschichte, angelehnt an den Text des Songs „None of the above“ der Weakerthans hat mich in den Bann gezogen. Ja, solche Abende gibt es mit unseren Lieben! Ich kannte die Weakerthans nicht, habe mir jedoch gleich ihre Songs angehört. Noch zu deinem leckeren, überbackenen Baguette. Während meiner Berufstätigkeit, jetzt bin ich in Rente, waren überbackene Seelen (ein schwäbisches Gebäck, ähnlich einem kleinen Baguette) oft meine Rettung. Daraus entstand mein kleines Kochbuch „Schwäbische Seelen: Raffiniert serviert“. Auch jetzt überbacke ich Seelen, sofern ich keine Zeit finde, etwas anderes zuzubereiten. Viele Grüße, Regina
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Freut mich sehr, dass die die Geschichte in den Bann gezogen hat, liebe Regina! Und ich musste, als Nordlicht, erstmal „Seelen“ googeln, um über Deine liebe, kurze Erklärung hinaus ein wenig zu erfahren. Denn hier oben würdest Du Dir damit ja quasi die nicht-stofflichen Wesenszüge, Eigenarten und die Gutmütigkeit von Menschen mit Käse im Ofen aufknuspern. Spannende Sache das, und toll auch, dass Du darüber sogar ein Buch geschrieben hast.
Große Grüße
Ole
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Lecker, lecker, lecker. Und wie immer hast du eine wunderbare Geschichte zum Rezept geschrieben bzw. ein Rezept zur Geschichte.
liebe Grüße schickt dir Karin.
Übrigens, du solltest unbedingt mal schwäbische Seelen backen. Die Dinger sind zu lecker. Ein Rezept findest du übrigens in meinem Blog😉.
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Das schau‘ ich mir gern mal näher an! Brotbacken ist etwas, dem ich mich bislang nie wirklich intensiver gewidmet habe, obwohl es mich reizt. Tausend Dank Dir abermals für so nette Worte!
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Tja, hin und wieder brauchen wir sie alle, diese Rosie, die auf die Schnelle Flammkuchen-Baguettes macht, frische Flammkuchen-Baguettes nämlich und nicht die Aufgebackenen aus dem Supermarkt. Kannst du sie mir nicht gleich mal rüberschicken, lieber Ole? 🙂
Liebe Grüße zu dir …
Maria
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Wenn Beamen nur erfunden wäre. Oder? Ich fürchte bei allem, Rosie steckt am Stadtrand von Winnipeg in Kanada, wo ich selbst noch nie war. Aber ich bin völlig bei Dir! Ganz unserer Meinung! 😊
Ganz liebe Grüße!
Ole
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