
Als wären es in Zeitlupe himmelabwärts geworfene Kamelle, segeln Schneeflocken auf die Krokusse, die sich bis gerade noch auf dem richtigen Weg in den Frühling wähnten – um nun hektisch zu prüfen, ob sie sich verlaufen haben. Bibbernd stecken sie ihre Köpfe zusammen. Und mir, mir ist nach Wärmendem, nach Knusprigem. Und aus dem Nichts schießen Erinnerungen empor an Derwische mit Frisuren wie Klobürsten. die über eine Bühne tobten und mit Kung-Fu-Tritten umhersprangen, als wollten sie die rauchdurchwaberte Luft über dem Publikum im Groninger „Vera“ in tausend Stücke treten, Gitarrenriffs im Flug zerlegten, ihre Stücke durch halsbrecherische Kurven jagten, gischtschäumende Grooves mit Krachkaskaden pulverisierten, bis der Schweiß von der niedrigen Clubdecke tropfte. Der Saal bebte, die Ohren schepperten, Gliedmaßen krachten unter der Folge musikalischer Vulkanausbrüche im entfesselten Publikumspulk aneinander – während draußen bittere Kälte ums Gemäuer des uralten Bürgerhauses unweit des Marktplatzes der einstigen Hansestadt stromerte.

Wie völlig zerwalkt wir von ihren eisigen Pranken umschlungen wurden, als der Schlussakkord, die kreischenden Rückkopplungsschleifen der Verstärker in unseren Ohren nachhallten und diese Band, „At the drive-in“, dieses weltweit gefeierte, genialische Gestrüpp voller Widerborsten, schräger Zacken und wilder Wendungen im Dschungel der Musikwelt, gefühlt alles zertrümmert hatte. Vor allem sich selbst. Gitarrist Omar Rodriguez-López pfefferte eine Gitarre gegen eine Rückwand, und unter Fluchen und einander Anmaulen verließ die Band die Bühne.
Damals, vor gut 22 Jahren, am 21. Februar 2001. Zwar waren Gerüchte aufgekommen, dass Gift ins zwischenmenschliche Miteinander der exzentrischen Vögel gesickert war, doch dass wir da Historisches erlebt hatten: den allerletzten Auftritt der Band, das völlige Aus mitten während der Europa-Tour, das Zerreißen der inneren Bande der Band: Wir hatten keine Ahnung, dass das irre Feuer, mit dem die Band agierte, den Stern der Band am Himmel der Rockmusikgeschichte an den Rand des Verglühens brachte – auch wenn sie sich etwa 15 Jahre später sogar für ein Album nochmal zusammenraufen sollten. Wir hatten uns über den Spott-Eintrittspreis von 12,50 Gulden gefreut, ärgerten uns nun nur, dass die hinreißend selbst gestalteten Plakate des Clubs, warum auch immer zierte das Innere eines halbierten Rotkohls das Poster, schon alle vergriffen waren. Das hätte sich großartig an der Innenseite der Wohnheimtür in Münster gemacht.

Und so zogen wir etwas ahnungslos und bierbeschwingt, heiser krakeelt und abgekämpft und bis in die Haarwurzelspitzen voller Adrenalin gepumpt los in die klirrend kalte nordniederländische Nacht, von den Grachten zogen Böen schräg, und irgendwer von uns hatte Hunger, und irgendwie musste man ja den Würgegriff der Kälte abschütteln und so zogen wir durch ein paar dunkle Gassen, um ein paar Winkel bis ins Kneipenviertel, landeten in irgendeiner ranzigen Kaschemme, und Rainer bestellte da zum nächsten Bier plötzlich appelpannekoeken met spek en stroop. Apfelpfannkuchen mit Speck/Bacon und Zuckerrübensirup. Und ich sah ihn an, als wäre er irre, doch er sagte: „Ich brauch was zwischen die Kiemen!“ Und als das Gericht, heiß und knusprig, fettglitzernd kam, als ich auch einen Bissen nehmen durfte von diesem mächtigen, aber kolossal leckeren Gemantsche, in dem sich Süß, Sauer, Salzig, Fruchtiges und Herzhaftes, Fluffiges und Knuspriges, Vollmundigkeit und Umami auf engstem Raum verbanden, war es um mich geschehen – und bestellte direkt auch einen, und die heißknusprige Wonne vertrieb jeden Restfitzel Kälte, erdete auch den abheben wollenden Schwips. Das war große Imbisskunst – nicht völlig unähnlich amerikanischen Varianten, wo Bacon gern mal in Ahornsirup karamellisiert gebraten wird, und auch nicht unähnlich dem bizarren Neujahrsgericht meiner ostfriesischen Heimat: Speckendicken. Da wird eine betont geheime Mischung aus Buchweizen-, Roggen- und Weizenschrotmehl mit Anis und Kardamom und Zuckerrübensirup und Eiern zu einem dicklichen Teig verrührt und dann mit Speck und Mettwurst in der Pfanne oder in Waffeleisen gebacken. Wird gehasst oder geliebt, ist in jedem Fall ein Magen-Senkblei erster Güte.

All diese Erinnerungen jedenfalls befielen mich kürzlich, als ich genau dieses Gericht, appelpannekoeken met spek en stroop, auf dem Blog einer Frau, die sich Sus nennt, fand. Einer Frau, die ähnlich geheimnisumwoben ist wie die exakten Mischverhältnisse im Speckendickenmehl. Eine Frau, deren wahre Persönlichkeit ein Bananen-Schoko-Pfannkuchen ist, wie sie vor Jahren bei einem Internetquiz herausfand. Eine Frau, die eines Tags ausrief: „Die Kresse scheint auf mein Kommando gehört zu haben!“
Sus, die vor 17 Jahren über sich sagte, dass sie keinen Wasserkocher benutzt und stattdessen Teewasser mit der Dampfdüse ihres Kaffee-Automaten bereitete, hat inzwischen annähernd 1000 kulinarische Beiträge verfasst, Salate, Aufstriche, Saucen, Pfannengerichte, vieles aus aller Welt. Raffiniertes, aber auch immer wieder Handfestes, Simples. Sus, die einen Toaster aus den 1950er Jahren geerbt hatte, aber nicht benutzte. Sus, deren elektrische Kaffeemaschine sich langweilte und deren Fadnis aufgepeppt wurde, indem sie stattdessen Nüsse und Zuckerkrumen feinsäbeln durfte. Sus, die im Sommer 2014 staunend die Blütenpracht der Insel Mainau am Bodensee durchschritt und direkt danach herausfand, dass Grillen auf Südkoreanisch 바비큐 (ba-ba-kju, übrigens) heißt. Sus, die Anfang Februar Mariä Lichtmess zelebriert hat, den Tag an dem „Jesus ,dem Herrn dargestellt’ wurde“, deren Leben „ab und zu Backofen schreit“, die aber fertige Sandwiches nur von der Seite anschaut. Manchmal ärgert sie sich, wenn Baken auf der Landgraf-Georg-Straße stehen. Manchmal freut sie sich, wenn auf dem Wochenmarkt Unterhaltungen auf afrikanische Blauflügelchen drehen.
Vor vielen, vielen Jahren begann ihre Kochkarriere damit, dass sie die klassischen Dosenravioli mit Pizzagewürz verfeinerte. „Mann, was kam ich mir toll vor!“, bekundet sie. Doch die Zeiten haben sich geändert. „Zwischenzeitlich habe ich noch nicht mal mehr die Dose für den Notfall im Haus, weil ich sie dann doch meist fünf Jahre nach Ablauf des Haltbarkeitsdatums unauffällig entsorgt hatte“, setzt Sus hinzu. Sie verrät denen, die die Beiträge entdecken, dass sie sich köstliche, teure Yuzu-Zitrusfrüchte per Abo liefern lassen hat, liebt Quitten über alles, ist für Marillen extra nach Wachau in Österreich gereist. Sie begeistert auch das erdige Aroma von roter Bete, und hat zumindest kurz überlegt, ein Tischräuchergerät auszuprobieren. Nicht zu kaufen.
Wer aber ist Sus? Und warum taucht sie hier auf? Auf die erste Frage weiß ich keine wirkliche Antwort. Doch habe ich zum ersten Mal in meinem Leben an einer für mich spannenden Aktion namens „Koch mein Rezept“ teilgenommen. Eine äußerst charmante Sache, die sich Volker von „Volkermampft“, Aushecker diverser gewitzter Blogaktionen, ausgedacht hat, und die funktioniert ein wenig wie Wichteln. Viele Schreiberlinge machen mit, die Namen ihrer Seite landen in einer Art ideeller Wollmütze als zerknüllte Zettel und werden dann gezogen und einander zugelost. Das Los entscheidet, wohin die eigene Reise geht – hin zu einer anderen Seite, wo man sich umsehen, eintauchen und ein Rezept oder mehrere der anderen Autoren ausprobiert und vorstellt. Ich habe für meine Premiere die Ehre, Euch Sus und eins ihrer Rezepte näherzubringen. Konkret in meinem Fall: Die appelpannekoeken met spek en stroop. Nun gehört zum Spiel, auch den Menschen hinter der Seite ein wenig näher zu bringen. Sus hat sich da in der Vergangenheit bedeckt gehalten, weshalb ich versucht habe, ihr über Texte ein wenig zu begegnen, so sehr dieser Versuch zum Scheitern verurteilt ist, um ihr als Mensch gerecht zu werden.
Beeindruckend, dass Sus, die anscheinend in einer Kleinstadt bei Darmstadt lebt, in Spuckweite zum Odenwald, „mit vielen Bauernhöfen drumherum“, seit dem Dezember 2005 durchgängig ihre Seite weiter gepflegt hat. Offenkundig ist, dass sie gern kocht und sich dabei seit vielen Jahren auch an diversen Gemeinschaftsaktionen beteiligt, wie dieser hier. „Kochen, Backen & Genießen. Ansonsten ein bisschen Garten, ein bisschen Reisen, ein bisschen Alltag“ sei, was ihre Seite ausmacht. Ob sie wasserscheu ist, wo der Link ihrer Seite doch wassersch.eu ist? Ob Corum fürs lateinische Herz steht, ob sie einen gleichnamigen Uhrenhersteller mag, ob sie stattdessen die türkische Stadt Çorum meint? Es bleiben geheimnisvolle Rätsel.
Im Anfang aber war die Bahn. Und mit ihr begann die Geschichte des kleinen Blogs. Es war im Dezember 2005, draußen biss bittere Kälte in die Wangen, als Sus begann sich aufzuregen. Kurz zuvor hatte sie im „Spiegel“ einen Bericht darüber gelesen, dass der Londoner Bahnbetreiber c2c hustenfreie Abteile einführen und Schniefnasen draußen lassen wollte. „Sonst geht’s noch?“, fragte sie und schrieb genau das ins Internet und es wurde der erste Beitrag ihrer eigenen Seite. „Der Plan war, etwas über Science Fiction und Fantasy zu schreiben. Da wurde aber irgendwie nichts daraus“, hat sie vor Kurzem geschrieben. Und dann stand da plötzlich ein Straßenbahnwagen ohne Schienen, ohne Triebwagen mitten auf dem Luisenplatz in Darmstadt. „Rundherum fahren Busse, Straßenbahnen mit Schienen und Triebwagen, Taxis. Leute steigen ein und aus und um, laufen hin und her. Es kommen noch mehr Busse, noch mehr Straßenbahnen … nur der kleine Wagen steht da.“ Und er warf offenbar Fragen in Sus auf. Drei Tage später fand sie die Antwort: In der schienenlos dastehenden Tram aus dem Jahr 1956 wurde ein Café eingerichtet. Kurz darauf begann sie sich zu fragen, worin denn der Sinn einer Garage liegen könnte, nun, wo sie seit dem Freitag vor dem 19. Dezember erstmals in ihrem Leben eine eigene nutzen konnte. „Schade, heute Nacht hat es weder geregnet, noch geschneit – da kann ich ja gar nicht voller Schadenfreude den anderen Autobesitzern am Straßenrand beim Kratzen zusehen“, schrieb sie damals – ehe sie sich der Gurke im Weihnachtsbaum zuwandte – und bis heute weitergemacht hat.

Welche Zutaten brauchen die Apfel-Bacon-Pfannkuchen?
250 Gramm Mehl – am liebsten je zur Hälfte Weizen- und Buchweizenmehl, aber wie Ihr’s dahabt
1/2 Liter Milch
2 Eier
1 Teelöffel Zucker
1 Teelöffel Salz
1 Teelöffel Kardamom
1 Prise Zimt
2 Äpfel
10 Scheiben Bacon
Zuckerrübensirup (wo es den nicht gibt, tun es Dattelsirup oder Ahornsirup ebenfalls)
Öl zum Anbraten

Und wie macht man die Teile?
Die Art und Weise der Zubereitung, wie Sus sie vorschlägt: Ich bin zart davon abgewichen. Sie schlägt vor, die Eier zu trennen und dann die Eigelbe mit Mehl, Milch, Salz und Zucker zu vermischen und sie quellen zu lassen. Etwa eine halbe Stunde lang. Sie schlägt das Eiweiß steif und hebt es später darunter. Das sorgt mutmaßlich für mehr Fluffigkeit.
Ich muss gestehen, dass ich an der Stelle nicht gründlich genug gelesen, die Eier einfach – wie ich es üblicherweise bei Pfannkuchenteig mache – komplett reingeschlagen und alles mit dem Schneebesen kräftig und leicht schaumig gerührt habe. Ich habe für etwas Bissfestigkeit auch noch ein paar Haferflocken dazugegeben, falls sich wer über die Klümpchen im Foto wundern sollte.
Und für etwas mehr aromatischen, holland-typischen Liebreiz und subtile Raffinesse habe ich auch Kardamom und eine Prise Zimt hinzugegeben, was beides in Sus‘ Original fehlt, sich aber in keiner Weise mit der Herzhaftigkeit des Gesamtgebildes beißt.

Nun die Äpfel schälen, das Kerngehäuse herausschneiden und das Ganze danach in Scheiben schneiden.

Den Speck in mundgerechte Stücke zerzupfen. In etwas Öl in einer Pfanne bei mittlerer Hitze die mit etwas Zucker besprenkelten Apfelschnitze zart bräunen, dann herausnehmen – bis auf ein paar Stück, die Teil des ersten Pfannkuchens werden sollen. Die Baconteile zwischen die Apfelschnitze drapieren und zart (!) aufknuspern lassen, dann den Teig über die Stücke gießen, etwa zwei Kellen. Man kann ihn, wie ich, auch aus der Schüssel gießen, muss dann aber aufpassen, dass es fein dünn bleibt, nicht dass man da am Ende einen super dicken Oschi hat, der innen noch roh und außen verbrannt ist. Auch wenn in den USA „Dutch babys“, wie sie die holländischen Pfannkuchen da nennen, schonmal die Dicke eines ausgewachsenen Telefonbuchs erreichen können. Wer mag, verteilt auch auf der Rückseite jetzt nochmal Apfel- und Baconstückchen (je nachdem auch, wie sparsam ihr beim ersten Mal wart).

Nun: Deckel druff. So gart auch die Oberseite schon mit, geht ein wenig wie ein Soufflé nach oben. Wenn die unteren Ränder fest geworden sind, mit einem Silikonspatel wenden und auch da knusprig braten. Schwarz werden sollte es von keiner Seite.

Wenn man alle Pfannkuchen gleichzeitig servieren möchte: Das erste fertige Teil in den Ofen schieben bei 50 Grad und da warten lassen, bis auch die weiteren fertig sind.
Zum Servieren mit Zuckerrübensirup beträufeln. Eet smakelijk!


Musik zum Menü
Bei diesem Text kann es nur eine Band geben, die den Auftakt macht: At the drive-in. Hier mit ihrem fantastischen Hit „Napoleon solo“.
Ebenfalls grandios, vom selben Albumjuwel „in/CASINO/OUT“, ist „Lopsided“.
Um die berstende Wucht zu packen zu kriegen, mit der At the drive-in insbesondere auf ihrer Tour, die sie auch nach Groningen führte, mag ein weiterer großer Hit von ihnen – „One armed-scissor“ – Beispiel geben.
Und hier noch ein Live-Auftritt aus der Zeit, mit einem weiteren Hit: „Invalid litter dept.“
Was für ein Kunstwerk!
Ich sitze hier mit meinem Kaffee und habe Deinen Beitrag regelrecht verschlungen … und Appetit bekommen 😉
Danke für diesen wundervollen, schmackhaften und inspirierenden Text.
Habe es fein ❤
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Ich bin geschüttelt und gerührt. Vor allem gerührt. Danke für solch herzöffnend schöne Worte. Frischer Kaffee ist noch in der Kanne, falls Du nachschenken möchtest. Und Reste sind auch noch übrig, falls Dein Magen knurren sollte. Tausendundeinen Dank! Hab ein wundervolles Wochenende! Und sieh Dich gern um, solltest Du mögen! 🙂 Große Grüße!
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Ich muss Dir mal was sagen:“ auf Deiner Seite bin ich gar nicht gerne, ich habe danach immer Gelüste“😁😂👍
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Sind Gelüste denn nichts Schönes? Ich würde sagen: Ja. 🙂
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Aber schade, dass Du nicht gern hier bist. Denn: sehr gern gesehen!
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Hach, wiedermal genau meinen Geschmack eingefangen! Fotos sind ebenso schmackhaft getroffen und Schreiberlinge, wie du einer bist, machen das „in andere Welten eintauchen“ super leicht … Danke dafür
sonnige Grüße
Sonja
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Du tust was für meine Gesichtsdurchblutung! Sehr dankbare, fast verlegene Grüße – und beste Wünsche für einen zauberschönen Abend!
Stürmische Grüße aus dem Nordwesten
Ole
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Du hast dich mal wieder selbst übertroffen… deine Geschichten sind so überbordend fantastisch, dass ich einfach dran hängenbleibe und sie zu Ende lesen muss und ich muss sonst nix außer Sterben..als alter Fan der schlichten holländischen Küche frage ich mich allerdings, ob ich meine Galle nicht in Zeeland verloren habe.
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Ne Freundin hab mal ihr Handy in Galle verloren. Aber das war was Anderes. 🙂
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Und tausend Dank, mein Lieber! Eventuell findeste hier ja sogar noch mehr für Dich Neues. 🙂
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Mach doch mal ein Poetisches Kochbuch👍 Der Poet als Koch oder so….Der Künstler als Star Koch….. wenn es ein Bestseller wird komme ich zum Essen😂👍
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