
An einem Montag um 11:58 Uhr sägten Mitarbeiter der Stadtwerke in einem Park morsche Äste aus den Baumkronen und zerfetzten sie im Häcksler. Im Ein-Euro-Laden fragte sich ein Mädchen mit Weckringen als Zopfbändern, wie teuer denn wohl alles hier sein mochte. In der Autowerkstatt, in die Wulnikowskis Auto mit ausgeleierter Steuerkette nur noch gehoppelt war, hatten sie beim Anschrauben der Motorabdeckung Kabel zerwickelt. Am Bahnübergang bei Aldi am Stadtrand stand eine Vierjährige mit erdbeereisverschmiertem Mund, bestaunte einen vorbeirauschenden Regional-Express und sagte: „Der ist rot und ganz schnell. Meine Schuhe sind auch rot und ich bin schnell. Bin ich auch ein Regional-Express?“ Im kleinen Hain dahinter pirschte sich ein kleiner Fuchs durchs raschelnde Blattwerk. Ein ins Mauerwerk des Fischladens geschraubtes Schild verriet, dass Fische statistisch die am seltensten überfahrenen Tiere sind, während draußen am Fluss, wo der Schilfgürtel sich zu den Wolken streckt, aber ein Musiklehrer, der mit seinem Sohn heimlich schwarz angeln war, einen zappelnden kleinen grün-schwarz gestreiften Barsch vom Haken nahm, ihn in einen Eimer warf – und ihn weil er nicht wusste, wie man einen Fisch totschlägt, hinter den Hinterreifen seines alten roten Mercedes legte und einmal zurücksetzte. Da war der Fisch platt. Und tot. Und die Statistik ad absurdum geführt.
Irgendwo betrank sich, 100 Jahre nach der Geburt von Vicco von Bülow, ein Weinhändler mit einem Staubsaugervertreter für den saugblasenden Heinzelmann bei einer unbekannten Dauerwellenträgerin. Böen, wie sie schon anlässlich der Zuchtbullenversteigerung in Hannover 1974 um die Häuser pfoffen, zerrten an Trainingsbuxen und „Bier formte diesen schönen Körper“-T-Shirts auf dem Balkon gegenüber, bei Wiebuschs. Frau Wiebusch, Else hieß sie, rückte schon wieder herabgesegeltem Laub mit dem Laubbläser zuleibe. Keinem Heinzelmann. Saugt nicht. Wie man das eben so macht in Gegenden, wo wenig Bäume stehen und Laub das Unbekannte zu sein scheint, das einem Unbehagen bereitet.
„Der Laubbläser: Das perfekte Symbol für unsere Zeit. Verlagert Probleme an einen anderen Ort statt sie zu lösen, verbraucht dabei wertvolle Energie und macht jede Menge Krach“, hatte Wulnikowski mal auf einem Aufkleber auf dem Kneipenklo bei Gertrud gelesen. Umso unsinniger, Laub zu blasen, während der Wind kunstpfeift. Wulnikowski selbst jedenfalls hatte um 11:58 Uhr die Faxen dicke. Seit einer Stunde hatte er versucht, die allzu nachgiebige Pressspanbodenpappe der Schublade in der Ikea-Bettwäsche-Kommode zu reparieren. Die Schublade hatte er überfüllt, keine Frage. Aber so reagieren muss so eine Schublade dann wiederum ja auch nicht. Und Wulnikowski fragte sich, ob die „Toten Hosen“ wohl Ikea-Kommoden im Hinterkopf hatten, als sie „Nichts bleibt für die Ewigkeit“ komponierten.
Und während er sich das gerade noch selbst fragte, konnte er das um 11:59 Uhr Ada fragen, denn die klingelte, und als er die Tür öffnete stand sie da, halb bibbernd, eine Flauschdecke um die Schultern geschlungen. „Was ist denn bei Dir los?“, fragte er. „Boiler kaputt. Stand unter der Dusche, plötzlich – zack! – Wasser arschkalt. Ich dachte, ich krieg nen Daalschlag*!“, sagte sie. „Achdukacke“, sagte Wulnikowski. „Und jetzt?“
„Kann ich bei Dir duschen? Ich muss einmal meinen Körper durchwärmen, sonst steh ich den Tag nicht durch – gerade, wo draußen die Herbstkälte so bissig geworden ist.“ „Bissiger als Wiebuschs Töle“, sagte Wulnikowski. Beide lachten. Ada zündete sich eine Zigarette an. Wulni sagte: „Klar kannst Du hier duschen. Aber: Um Dich zusätzlich aufzuwärmen und weil das Wortspiel grad passt: Möchtest Du nach dem Daalschlag nen Dal-Nachschlag? Ich hab nämlich gestern Dal gekocht, schön scharf, mit gepickelten Zwiebeln.“ „Das wär natürlich geil“, sagte Ada, zog noch einmal an ihrer Zigarette, drückte erst sie aus und ihm dann einen Schmatzer auf die Wange.
Und inzwischen war es 12:07 Uhr und irgendwie fühlten sich die Welt und das Leben jetzt um neun Minuten wärmer an. Und die alte Wiebusch hatte auch endlich den Laubbläser zurück in die Garage geschleppt. Der Regional-Express hatte seinen nächsten Halt erreicht, und der alte Schwarzangel-Musiklehrer versuchte irgendwie den plattgefahrenen Barsch zu entgräten. Und als Ada dann frisch geduscht und aufgewärmt aus der Dusche kam und Wulnikowski dann noch der Dal auf den Tisch stellte, nach Kreuzkümmel und Kurkuma und Bockshornkleesamen und Fenchel duftend, chilischarf und wild, und als dann auf der Zunge sich Dal-Feuer und Joghurtkühle mischten und sich die grellpink gepickelten Zwiebeln darum legten, von kecker Limettensäure ihrer Schärfe beraubt, da war um 12:23 die Welt sogar wieder ganz schön in Ordnung.

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Das braucht man fürs Dal mit gepickelten Zwiebeln
Für 4 Fröstelnde
250 Gramm rote Linsen
900 Milliliter Wasser
1 Teelöffel Fenchelfrüchte (auch Fenchelsamen genannt)
1 Teelöffel Koriandersamen
1 Teelöffel Bockshornkleesamen
2 getrocknete Chilis
2 Teelöffel Kreuzkümmelsamen, alle gemeinsam im Mörser angemalmt
1 Teelöffel Currypulver oder, im milderen Fall, Kurkuma
1 Teelöffel Salz
1 Teelöffel Zucker (optional)
1-2 rote Zwiebeln
2-3 Esslöffel Cranberrysaft
1 Limette, Schale abgerieben
2 Esslöffel Ghee oder Butter
Joghurt griechischer Art (10%) oder vegane Alternativen
Frischen Koriander, vielleicht auch Minze, zum Garnieren

So bereitet man das Dal mit gepickelten Zwiebeln zu
Gern schon eine Stunde oder so vor dem eigentlichen Kochen den Cranberrysaft und den Saft einer Limettenhälfte in ein Glasschälchen geben. Die Zwiebel(n) schälen und in feine Scheiben schneiden und dann in der Saftsäure baden lassen. „Mazerieren“ nennen das Fachleute. Das Ganze nimmt den Zwiebeln ihre stechende Schärfe, diese Herbstbissigkeit, und mildert ihre Stimmung auf.
Während die Zwiebeln schonmal baden, roten Linsen in einen Topf rieseln, mit dem Wasser auffüllen, den Teelöffel Salz sowie das Curry- oder Kurkumapulver hineinrieseln sowie den Saft einer Limettenhälfte hinzuquetschen, verrühren und das Ganze zum Kochen bringen, bei mittlerer Hitze. Wenn es blubbert und tobt, die Hitze runterschalten und etwa zehn Minuten lang köcheln lassen, bis die Mélange etwas eingedickt ist.
Derweil die Gewürze anmörsern, Ghee oder Butter in einer Pfanne bei niedriger Hitze auslassen und die Gewürze darin anrösten, bis sie zu duften beginnen. Vielleicht etwa eine Minute lang. Gern mal schwenken. Keineswegs zu scharf anbraten. Es sei denn, Ihr habt Lust auf rabenschwarze Bitternis.
Das butterige Gewürzgemisch dann zum Linsenbrei geben, der noch ein wenig blubbert, auf niedriger Hitze, und nach und nach eindickt. Die Hitze abschalten. Das Ganze nach eigenem Belieben eventuell noch mit einer Prise Salz und eventuell auch etwas Zucker abschmecken, je nachdem wie saftig und sauer die Limetten daher kommen, zum Abrunden.
Mit einem satten Klecks kühlem Joghurt servieren und mit frischen Korianderblättern oder auch Minze bestreuen.
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Musik zum Menü
Wenn kleine Füchse sich durchs raschelnde Laub im Hain am Bahnübergang pirschen, ist es Zeit für „My little fox“ vom zauberschönen neuen, nach Herbst duftenden Album von Sufjan Stevens.
Wenn Ikea-Schubladen unter dem Bettwäschedruck nachgeben, kann man schon mal an „Nichts bleibt für die Ewigkeit“ nachdenken. So selten die „Toten Hosen“ doch eigentlich bei mir aufgelegt werden.
Und dann sind da die baumelnden Wäschestücke vom „Balkon gegenüber“, so sehr es im Song von Kettcar um ganz Anderes, Düsteres geht.
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Also das Modell-Laubläser würde ich mir direkt patentieren lassen, reisender Absatz garantiert! Wir hätten da aktuell Bedarf in Hessen, leider habe ich die Handy-Nr. von Boris nicht, deshalb hoffe ich, sein Team handelt gerade einen Rabattvertrag für Laufbläser aus 😉……. Was für ein herrlicher Vergleich, ich musste direkt schmunzeln. LG Ira
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Wer ist denn eigentlich Boris? 😀
Wenn ich Boris und Hessen googele, stoße ich auf BORIS, das Bodenrichtwertinformationssystem Hessens. 😀
Und das freut mich. Schmunzeln ist so super wie Laubbläser überflüssig sind. 🙂
Ganz liebe Grüße
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Ach lieber Ole, mit dieser Geschichte hast Du Dich selbst übertroffen. Sie hat eine Schwingung, als sei Rötger „Brösel“ Feldmann auf seine alten Tage gar melancholisch geworden. Vielleicht wird dieser Eindruck aber auch nur durch das norddeutsche Setting unterstrichen und ich habe einfach zu viele Comics gelesen. 😉
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Spannende Assoziationen!
Zumindest schüsselt da koinä midder Horex durchn Koog, koinä kuckt inne Flasche, wie späddas is‘, keiner säuft Bölkstoff und Eckaat hält soinä Wuäss-Libbn auch nich‘ vor‘n Wuäss-Blinkä. 😀
Aber tausendundeinen Dank Dir!
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Und ich sollte mal meine alten Brösel-Comics raussuchen. Die lassen sich sicher auch noch hier verwurstblinkerm. 🙂
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Und das mit dem selbst übertroffen…. du tust was für meine Gesichtsdurchblutung! 😀
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Wie kann man bloß ein so surreale und geile Geschichte rund um ein Kochrezept bauen? Muss mich mal kurz vor dir verbeugen!
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Unterscheidet die Geschichte sich von den anderen rund um Wulnikowski? Rezepte in Geschichten gewoben gibt’s hier zumindest ja oft. 🙂
Und wie man das kann? Keine Ahnung. Passiert beim Schreiben. Ich bin geehrt. Tausendundeinen Dank Dir!
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Lieber Ole, genau so habe ich Dal gelernt beim ayurvedischen Kochkurs, fabelhaft finde ich das. Doppelt herzerwärmend mit der Geschichte , ganz passend zum trüb-stürmischen Wetter heute
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Was für eine irre Geschichte. Klingt sensationell lecker zudem!
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Weißt du, für mich ist die Welt auch immer in Ordnung, wenn ich hier bei dir bin und mich lesend wundere über dieses verrückte Leben, das so wunderbare Geschichten bereithält. Nur frage ich mich, ob es tatsächlich möglich ist, Weckringe als Zopfbänder zu benutzen. Muss ich direkt ausprobieren ;-)))))
Alles Liebe zu dir!
Maria
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Das hängt von der Mächtigkeit der Pferdemähne ab. Und es gibt ja auch ganz kleine Weckringe, mit vielleicht vier Zentimeter Durchmesser. 🙂
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Und einmal mehr tausendundeinen Dank Dir!
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…oh ich musste kurz mal unterbrechen, die geschichte mit den platten fisch hinter dem autoreifen und dann gleich noch loriot hinterher…. und wie arthurs tochter schrieb, dann noch das norddeutsche setting dazu…. kann mir richtig vorstellen wie das da in dem nordischen friesenheim im november zugeht. wow, was da wieder für bilder im gehirn entstehen – mir blieben da glatt die großbuchstaben weg.
super! und jetzt lese ich mal die anderen verpassten geschichten. smiley von ute
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