
Es war im Sommer 1961, als das Leben eines kleinen Mädchens in den sanft geschwungenen bewaldeten Hügeln Nordschwedens vor dem Fernseher sitzend eine entscheidende Wendung erfuhr. Elja-Riitta Eklöf, damals sieben Jahre alt, saß im kleinen Dorf Liden auf dem Sofa, blickte auf die Flimmerkiste. Und darin zu sehen: Schlanke, gleichmäßige Betonteile, die von Kränen zu einer Mauer zusammengesetzt wurden, mitten in Berlin. Walter Ulbricht, der beteuerte, niemand habe die Absicht, eine Mauer zu bauen. Aber wie schön und erhaben sie auf Elja-Riitta wirkte.
Die Faszination blieb, nein, wuchs. Aus unschuldigem Bewundern wurde pochende Begierde. In ihrer Jugend sparte Elja-Riita fortan Öre und Kronen, wo sie konnte, um nur irgendwann endlich zu ihm reisen zu können. Zu ihm, denn für sie war die Berliner Mauer ein Mann, mit einer Ausstrahlung, die sie in Bann schlug: seinen 155 Kilometern imposanter Länge, mit seinen horizontalen Linien voller Anmut und Anziehungskraft. 23 war sie, als sie endlich genug Geld zusammengekratzt hatte, um „ihm“ direkt gegenüberzutreten, ihn zu berühren. „Ich war sehr schüchtern, am Anfang habe ich mich kaum getraut, ihn zu berühren. Aber das Gefühl war unglaublich“, erzählte sie später in einem Interview mit „Jetzt“, dem Jugendportal der „Süddeutschen Zeitung“. Und: „Die Berliner Mauer ist die erotischste und sexieste Mauer, die es je gab. Ich hatte mich zuvor noch nie so stark zu etwas hingezogen gefühlt.“ Was die Schwedin in Wallung brachte, waren lange, klare horizontale Linien, die etwas trennten. Auch Gartenzäune oder Bahngleise. Die Chinesische Mauer hatte Potenzial, war aber „zu dick“, fand sie.
Gerade im Vergleich zur Mauer. Beide tauschten Gefühle aus, sagte die Schwedin, und so fasste sie im Juni 1979 den Mut, reiste erneut nach Berlin. Ungeklärt bleiben wird, ob es seinerzeit nach getrockneten Tomaten, Thymian, Parmesan, Knoblauch, krossem Hähnchen und Brühe duftete. Doch gesichert ist: Elja-Riitta Eklöf begab sich gemeinsam mit einem Animisten, der angeblich Kontakt zur Mauer aufnehmen und mit ihr sprechen konnte, an die Ecke Treptower/Stahnsdorfer Straße, und dort, ja, dort heiratete die junge Schwedin das 155 Kilometer lange Bauwerk, schmiegte sich zur Feier an ihn. „Er“ nahm all das äußerlich ungerührt zur Kenntnis, stand eher steif rum. Fortan führten sie eine Fernbeziehung. Intimität schaffen bei einem so im Fokus der Öffentlichkeit stehenden Partner? Knifflig. „Aber man gewöhnt sich daran.“ Elja-Riitta Eklöf-Berliner-Mauer, so ließ sie ihren Namen amtlich eintragen, zog zurück in ihr Heimatdorf nach Schweden. Er, der starke, stille Typ, blieb in Berlin und tat, wofür man ihn gebaut hatte und wofür er nichts konnte, bis am 9. November 1989 plötzlich wildfremde Horden auf ihm herumtrampelten, ihn mit Hämmern traktierten, Stücke aus ihm herausschlugen und Elja-Riitta das Herz brachen. „Angesichts all der emotionalen Verbundenheit, tiefen Liebe und den guten Erinnerungen, die mich mit ihm verbunden haben, war der einzige Weg zu überleben, dieses schreckliche Ereignis zu verdrängen“, berichtete die Schwedin Jahre später traumatisiert auf ihrer Homepage.
Die Schwedin war nicht allein mit ihrer Liebe zu den Dingen, als Objektophile. Am 11. September 2001 wurde der Geliebte der Berlinerin Sandy K. öffentlich hingerichtet: Sie war für die Twin Towers in New York, für sie waren es John und Dave, entflammt. Dann gab es auch noch Joachim, der sich im Alter von zwölf Jahren Hals über Kopf „in eine emotional und körperlich sehr komplexe, innige und langjährige Beziehung“ mit einer Hammondorgel stürzte, dann aber mit einer Dampflokomotive zusammenkam, wie er dem „Spiegel“ berichtete. Bei ihm löst das technische Innenleben von Dingen Wallungen aus, deshalb „endeten in der Vergangenheit besonders Reparaturen im Seitensprung“, und „so konnte eine Liebesgeschichte durchaus mit einer defekten Heizung beginnen“, schilderte er dem „Spiegel“ an die Anbahnung früherer Affären.
Vielleicht auch den Eiffelturm oder ein Hologramm heiraten?
Eventuell hing auch ein Hauch von Parmesan, getrockneten Tomaten, von vollmundigem Umami in der Luft, als Kampfjet-Co-Pilotin Erika LaBrie vor 17 Jahren nach einer vermeintlich dreijährigen Beziehung antrat, den Eiffelturm zu heiraten. Sie, die sich fortan Erika Eiffel nannte und als Bogenschützin Weltrum erlangte, entwickelte ebenfalls eine innige Beziehung zur Berliner Mauer. Velleicht duftete es auch nach Hähnchen in sämigem Tomaten-Parmesan-Rahm, als Hatsune Miko ein Hologramm ehelichte.
Was hat es mit dem „Marry me chicken“ selbst auf sich?
Wahrscheinlich ist all das nicht, und doch ist es eine Möglichkeit, wenn man den Kult betrachtet, der seit einigen Jahren, insbesondere aber seit dem vorigen Herbst um ein Hähnchen-Gericht vorherrscht, das als „Marry me chicken“ berühmt geworden ist. Darin baden aufgeknusperte, zarte Hähnchenbrüste in einer vollmundig-scharfen Sauce aus getrockneten Tomaten, Hühnerbrühe, Sahne, Parmesan, angeschärft durch Chiliflocken, aromatisch verfeinert durch frische Kräuter.
Es war im Jahr 2016, dass Lindsay Funston, damals Redakteurin des Magazins Delish, dieses vor Umami strotzende und an die italienische Küche angelehnte Rezept vor der Kamera zubereitete – und von ihrem Produzenten das Kompliment bekam, es sei so köstlich, dafür würde er sie sogar heiraten. Es war im vorigen Herbst, als Tiktoker das Rezept wieder ausbuddelten und das Gericht plötzlich weltweit zum Renner wurde. Die New York Times sprang auf, in ungezählten Varianten nachgekocht, ging das „Marry me chicken“ durch ungezählte Mägen, fand auch in wundervollen Blogs wie „Arthurs Tochter kocht“ seinen schlauen Widerhall. Zungen schnalzten, Begeisterte schwärmten und seufzten. Wie viele Heiratsanträge folgten? Wer weiß?
Und fast mag man sich fragen, ob der englische Begriff „Love bird“ was mit dem Verzehr von Geflügel zu tun haben mag. Schließlich brachte es auch eine Redakteurin des Magazins „Glamour“ – Kim Bonnell – zu einiger kulinarischer Aufmerksamkeit mit einem Gericht, das sie „Engagement Chicken“ taufte. Es war ihre Interpretation des legendär simpel-brillanten Brathähnchens mit Zitrone der italienischen Kochbuchautorinnen-Legende Marcella Hazan, und in ihrem Fall – ich glaube, er datiert von 1982 – trudelten nach der Veröffentlichung ungezählte Briefe in der Redaktion ein von Menschen, die sich nach dem Genuss des Knuspervogels verlobt hatten.
Und nun hab’ ja auch ich einen Vogel – und wissen wollen, wie es denn schmeckt, das umjubelte, neuere „Marry me chicken“, das doch auch so einige Male mit seinem älteren Bruder, dem Verlobungshuhn von Bonnell/Hazan verwechselt worden ist. Es ist nicht auszuschließen, dass irgendwer dieses tatsächlich sehr leckere Gericht, selbst heiraten möchte. Ich habe ihm keinen Antrag gemacht, auch mir selbst als Koch nicht. Aber probiert haben darf man dieses Gericht in jedem Fall, gerade weil es sehr gekonnt perfekt zueinander passende Zutaten, die voller Vollmundigkeit stecken, vereint. Echtes Seelenfutter – so köstlich, dass man sich wenigstens in den Geschmack ein wenig verlieben kann. Hier nun meine, ein wenig freie, Interpretation des Gerichts.

Zutaten für das „Marry me chicken“
Für 4 Personen
600 Gramm (Bio-)Hähnchenbrustfilets, am besten 4 kleine, für jeden eins
2 EL Tomatenmark
1-2 Handvoll sonnengetrocknete Tomaten in Öl, abgetropft
1 Becher Sahne (200ml)
300 ml Hühnerbrühe
4 Knoblauchzehen
1 rote Zwiebel
1/2 Bund frischen Thymian
1 Teelöffel Oregano, gerebelt
2 Handvoll frisch geriebenen Parmesan
Basilikumblätter
2 Teelöffel Chiliflocken/Piment d’Espelette
Schwarzer Pfeffer, frisch gemörsert (vielleicht auch mit Langem Pfeffer oder Malabar-Pfeffer experimentieren)
Salz
Zucker
Olivenöl
Butter
optional:
1 TL helles Miso
abgeriebene Zitronenschale/etwas ausgepressten Saft
Pinienkerne
1 Schluck Weißwein
Beilagen:
vielleicht Pasta, etwa Linguine aus Bronzeformen, zumindest welche, die Sauce gut aufnimmt (keine glatten Supermarktspaghetti), vielleicht Reis, vielleicht krosse Quetschkartoffeln

So bereitet man das „Marry me chicken“ zu
Wer nun liebesdurstig sich anschickt, das Gericht zuzubereiten, beginnt am besten einen Abend zuvor: Die Hähnchenfilets abspülen, trockentupfen und salzen. Dann zugedeckt im Kühlschrank über Nacht ziehen lassen. So werden sie zarter, saftiger und nehmen tags drauf mehr von der köstlichen Sauce auf.
Die Hähnchenbrüste dann tags drauf in einer heißen Eisenpfanne in Olivenöl mit einem Schnups Butter von beiden Seiten goldbraun braten (natürlich gehen auch andere Pfannen, aber die schönere Kruste gibt es so).

Die rote Zwiebel häuten und in feine Ringe schneiden, den Knoblauch anmutig schälen und in feine Scheiben schneiden, die abgetropften getrockneten Tomaten ebenfalls fein hacken.
Den Backofen auf 50 Grad vorheizen, die Hähnchenbrüste aus der Pfanne nehmen und bestenfalls zugedeckt in einer kleinen Glasform oder ähnlichem in den Ofen bugsieren.
In der Pfanne nun nochmals etwas Butter auslassen und bei niedriger Hitze darin zunächst die Zwiebeln golden schmurgeln, zart. Dann die gehackten getrockneten Tomaten mitschmurgeln und kurz darauf auch den Knoblauch sowie ein paar Thymianzweige und den gerebelten Oregano geben. Die beiden gehäuften Esslöffel Tomatenmark dazugeben und unter Rühren anbraten. Wer mag, löscht mit einem Schluck Weißwein ab oder trinkt einfach zwischendurch welchen.


In jedem Fall mit 300 ml Hühnerbrühe dazugeben und dann erstmal eine Weile köcheln lassen, zugedeckt, bei niedriger Hitze. Besserenfalls mindestens eine halbe Stunde, gern auch eine Dreiviertelstunde, damit sich die Aromen der Tomaten besser entfalten können. Dann den Parmesan reiben, gern fein wie Schnee, und ihn sehr großzügig über der Sauce verteilen und einrühren. Die Sahne zugeben.


Wer noch mehr Umami möchte, gibt auch noch einen Teelöffel helles Miso hinzu und reibt vielleicht auch noch die Schale einer Bio-Zitrone hinzu (man kann es hier aber auch köstlich schlichter halten oder Zitronenthymian statt des normalen Thymians nehmen). Mit Chiliflocken (ich finde Piment d’Espelette sehr passend, Pul Biber oder andere gehen natürlich aber auch) anschärfen. Die Hähnchenbrüste zurück in die Sauce geben, etwas Sauce drüberlöffeln, um sie von allen Seiten zu bedecken, und noch ein wenig ziehen lassen in der Sauce. Etwa einen Esslöffel Pfeffer im Mörser zerstoßen und zur Sauce geben (ich habe diesmal mit Langem Pfeffer, Kubebenpfeffer und Malabar-Pfeffer experimentiert, aber schlichter schwarzer tut es hervorragend).
Derweil die Pasta oder welche Beilage Ihr dazu mögt bissfest und/oder fertig kochen.
Zum Servieren mit frischen Kräutern bestreuen, vielleicht auch Basilikum. Wer mag und zur Hand hat, streut ein paar Pinienkerne dazu.

Musik zum Liebeshuhn
I, I can remember (I remember)
Standing, by the wall
And the guns, shot above our heads
And we kissed, as though nothing could fall
And the shame, was on the other side
Oh we can beat them, for ever and ever
Then we could be Heroes, just for one day
Zeitlich wie auch ein wenig inhaltlich passend zur Geschichte von Elja-Riitta Eklöf-Berliner-Mauer fällt ihre Hochzeit mit dem so umstrittenen, todbringenden, stadtzerschneidenden Bauwerk auch an den Rand der Berliner Jahre von David Bowie, der seinerzeit für drei Jahre mit Iggy Pop in Schöneberg lebte, und sein ikonisch gewordener Riesenhit „Heroes“ handelt mithin von Liebenden, die sich an der Berliner Mauer stehend küssen – und wenigstens für einen Tag Helden werden.
Wer Hammondorgeln, Mauern, Gebäude liebt oder ein Risotto heiraten möchte, ist ja schon ein bisschen anders. Da passt „Different“ samt der Zeile „I want you, I want you, I know that you’re different (…) She said I love you, I love you, I love you, I love that you’re different“ von The Academic auch ein bisschen.
Dann gibt es da noch das kleine, kaum bekannte poetische Klavier-Kleinod „Berlin Wall“ des passenderweise schwedischen Pianisten, der sich Songs of Eden nennt. Zart, lyrisch, ein bisschen wie die Liebe. Hier in einer akustisch schönen und sonst etwas eigentümlichen Version, in einer Kirche eingespielt.
Wenn Berlin zum tragen kommt, kann man auch „Berlin“ von RY X noch mit in die Verlosung werfen, weil schöner Song.
Und zum „Marry me chicken“ dürfen auch Alvvays noch aufspielen, mit ihrem geruhsam daherschlurfenden 60s-Retro-Soulpop-Hit „Archie, marry me“.
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Was für eine abgefahrene – und dann auch noch wahre – Geschichte! Das war mal wieder sehr amüsant zu lesen und ich habe eine Menge gelernt! Da ich mich nie bei TikTok rumtreibe, ist dieses Gericht bisher völlig an mir vorbeigegangen (und bei Astrid hab ich es offensichtlich auch verpasst). Das Rezept klingt köstlich, aber das ist ja bei den Zutaten logisch. Wird demnächst ausprobiert und Du glaubst gar nicht, wie anmutig ich Knoblauch schälen kann! 😁
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Tausendundeinen Dank, liebe Oda! Das freut mich sehr! Und ich hab auch nur über Bande vom Tiktok-Trend erfahren. Und Du glaubst gar nicht, wie viel Knoblauchschälanmut ich Dir zutraue! 🙂 Hoff, es wird Dir schmecken! 🙂
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Oh wow, das ist mal ’ne Story… ach was: Plural – Stories! Wahnsinn! Dabei hättest Du mir dieses Essen in der Anrichtung auch ganz entspannt solo verkaufen können. Es duftet quasi durch den Bildschirm.
Merci & herzliche Grüße
Charlotte
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Ich teile ja sehr gern, Geschichten, Gerichte, Rezepte… Verkäufer bin ich ja eher selten. 🙂
Aber tausendundeinen Dank! Freut mich sehr! Demnächst gibt’s dann mal wieder schlanke Kost, zumindest erzählerisch. 🙂
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Wer noch nicht beim Hähnchen in Verzückung geriet, spätestens bei Heroes ist es dann soweit. Von der Mauer- Heirat hatte ich tatsächlich mal gehört oder gelesen, und prompt in den Tiefen des Gedächtnisses versenkt. Und nun hoffe ich auf baldige frische Biohähnchen, am Besten gleich 2 weil Suppe gab es schon lange nicht mehr.
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Was für ein wundervolles Rezept zusammen mit großartigen Geschichten und bester Musik (wusste übrigens nicht, dass David Bowie drei Jahre mit Iggy Pop in Berlin lebte) ‚Marry me chicken‘ wird demnächst ausprobiert und im Amalienwohnzimmer serviert!
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