
Im Winter, wenn die Dämmerung schon zum Nachmittagstee vor der Tür steht, um das Sonnenlicht aus dem Bällebad des Tages abzuholen und vorzeitig im Nachtdunkel schlafen zu legen, überglitzert auch Frost wieder das Land. Auch wenn Regengüsse aus bleigrauen Wolkenbergen tagein tagaus deutlich häufiger sind. Der Frost blüht auf Autoscheiben, die man mühsam freikratzt, rankt sich über glatte Flächen und klammert sich als Raureif an entlaubte Brombeerranken oder an krause Kohlköpfe wie die „ostfriesische Palme“. Dort, wo ich herkomme, ist der erste Herbstfrost das fast magische Zeichen, dass offiziell die Grünkohl-Saison begonnen hat.
Offiziell beginnt die am Buß- und Bettag, doch erst Frost bremst die Stoffwechselprozesse in der Pflanze. Dadurch steigt der Zuckergehalt in den Blättern, der Kohl wird aromatischer und verliert an Bitterkeit. Eben deshalb hat man ihn traditionell erst nach dem ersten Nachtfrost geerntet. Und so lange es kalt und knackig bleibt, bleibt Grünkohl-Eintopf in seiner klassischen Deftigkeit in seinem speckig-fetten Liebreiz und seiner wuchtigen, aber umwerdenden Erscheinung keine Schönheit, aber ein hinreißendes Winteressen.


In Ostfriesland trifft man Grünkohlessen und Straßenboßeln oft als eng vertrautes Pärchen an. Boßeln, um es den „Zugereisten“ zu erklären, ist grob so etwas wie Weitkegeln. Nur ohne Kegel. Im Ursprung eher eine Art Rampenweitwurf auf Feldern, von Friesen im Mittelalter erfunden. Inzwischen aber vor allem oft auf kaum befahrenen kleinen Straßen, die sich nicht selten in der Mitte wölben, in denen mitunter auch Schlaglöcher klaffen. Erhöht den Schwierigkeitsgrad. Es ist Sport, im weitesten Sinne. Zwei Gruppen treten gegeneinander an und nacheinander werfen oder rollen die Mitglieder Kugeln – etwa ein Kilo schwer – aus Pockholz, Gummi oder Plastik um die Wette über Straßen mit dem Ziel, eine vorher festgelegte Strecke – meist um die acht Kilometer – in möglichst wenig Würfen zurückzulegen. Wirft einer der Boßler derart weit, dass die Gegner mit zwei Würfen hintereinander es nicht schaffen, die Kugel einzuholen, gibt es einen „Schött“, einen Sonderpunkt. Wer gerade durchs ostfriesische Hinterland kurvt, trifft dort nicht selten auf Straßen, an deren Rändern Entfernungsmarkierungen aufgesprüht sind, sogar auf Schilder, die auf Boßler hinweisen nach dem Motto „Vorsicht, unkontrolliert umherfliegende Kugeln“ – und mitunter auch auf Sportlergruppen.

Wer schlau ist und auch wer nicht schlau ist, aber trotzdem Beulen am Auto vermeiden möchte, parkt besser nicht an diesen Strecken. Sonst kann es passieren, dass irgendwer an der Tür klingelt und reumütig Schnaps vorbeibringt, zur Entschuldigung, weil gerade eine Kugel das Heck zerdetscht hat. Manchmal knallen Kugeln auch gegen eh schon schiefe Leitpfosten, die dadurch noch schiefer werden. Besonders oft aber klatschen die Kugeln vom Fahrbahnrand in die braune, manchmal dornenstrauchüberwucherte Brühe der Straßengräben. Dann kommt der Kraber zum Einsatz, ein apfelpflückerähnliches Teil mit einer Art Fangkorb aus Stahl, an einem Besenstiel befestigt. Mit dem man dann gern im Gubbel umherstochert, um die Kugel wiederzufinden. Sportlergruppen nutzen diese Kunstpausen, um durchzuatmen, Freizeitsportler, die zum Spaß boßeln, nutzen diese Momente, um Schnaps, Bier oder Glühwein zu trinken. Asketen greifen auch zu Tee oder Kaffee zum Aufwärmen.
Zum Aufwärmen und Stärken nach Stunden in der Frostkälte hat man sich in vorigen Jahren gern dicht an Tafeln gedrängt, auf denen Grünkohl, Fleisch und Kartoffeln aus Schüsseln dampften, und sich das Ganze einverleibt. Es gibt nicht wenige Ostfriesen, die sagen, Grünkohl sei das Nationalgericht Ostfrieslands. Was nicht völlig falsch ist, aber trotzdem Quatsch, weil es typischere Gerichte für die Ecke der Welt gibt – und das mit dem Grünkohl sagen auch so einige Westfalen, Oldenburger, Bremer, Schleswig-Holsteiner. Wer es zumindest erfunden hat? Wem das Gericht am meisten gehört? Wer weiß es? Wen kümmert es? Urkundlich erwähnt wurde krauser Kohl wie Grünkohl schon weit vor Christus bei den Römern. Es scheint aber irgendwo südlich von Münster eine Grenze zu geben, ab der sich die Begeisterung beim Anblick eines schlotzig gekochten Haufens Kohl in stirnrunzelndes Unverständnis verwandelt.
Darüber, wie er nun richtig zubereitet wird, streiten sich die Gelehrten und Ungelehrten zwischen Ijsselmeer und Schlei, zwischen Pott und Watt, genauso wie über die Frage, wer diese für den Magen herausfordernde Zubereitungsart des eigentlich so gesunden Kohls erfunden hat. Ohne Anspruch auf Authentizität, ohne Anspruch darauf, irgendwas besser als andere zu machen, verrate ich hier aber einfach mal, wie ich ihn gern koche – und esse. Wie ich ihn in Ostfriesland kennengelernt und mir anverwandelt habe, zusammengerührt aus verschiedenen Rezepten der Familie, von Großmüttern im Umkreis, und anverwandelt.

Ich mag Grünkohl schlotzig, zerkocht, nicht suppenwässrig, eher als zarten Brei, ein wenig angedickt mit Haferflocken. Ich mag die zarten Bitternoten, die von der satten Würzigkeit und der Vollmundigkeit von Brühe umarmt werden, von einem Hauch Senf neckisch in die Rippen gepiekt, von einer Prise Zucker umgarnt und von der Sanftmütigkeit frisch gekochter Salzkartoffeln vom Baum geholt werden. Ich mag es auch, wenn der Grünkohl Schmackes hat, und Etwas Crunch als Gaumenkitzler zum Ausgleich der Schlabbrigkeit bringen krosse Schinkenspeckwürfel. Am zweiten Tag, dann ist der Kohl eh noch viel besser, auch gern knusprige Bratkartoffeln, denn bestenfalls kocht man auch von den Kartoffeln am ersten Tag mehr als man überhaupt essen kann und möchte. Sehr nett finde ich auch die in Schleswig-Holstein zelebrierte Variante, kleine Kartöffelchen in Zucker zu karamellisieren.

Was gehört rein?
1 Kilogramm Grünkohl (gern frisch, aber tiefgefroren und bereits zerzupft erspart es Arbeit – der ausm Glas ist geschmacklich auch durchaus essbar, aber wird am Ende fast unangenehm matschig)
2 große Zwiebeln
150 Gramm magere Schinkenspeckwürfel
100 Gramm Butterschmalz (oder Butter und Rapsöl, je zur Hälfte)
400 Gramm magerer Bauchspeck am Stück oder Kasseler
2 große Zwiebeln
100 g Ghee/Butterschmalz
0, 5 Liter kräftige Brühe
4-5 gehäufte Löffel zarte Haferflocken
3 Esslöffel mittelscharfen Senf
1 Esslöffel Zucker
2-3 TL Chiliflocken
Salz/Pfeffer zum Abschmecken
Pro Nase 2-3 Kochwürste (bevorzugt Oldenburger Pinkel, Kochmettwürste tun aber auch einen souveränen Dienst)
1 Kilo Kartoffeln (gern mehligkochend)
Was tun?
Zunächst einen großen Topf mit mindestens fünf Litern Salzwasser zum Brodeln bringen und den Grünkohl portionsweise darin blanchieren. Sprich: Etwa eine Minute lang sprudelnd kochen lassen, dann rausheben und in eisigem Wasser abschrecken. Das löst die letzten Bitterstoffe aus dem Grün und bewahrt die Farbe. Abtropfen lassen und ausdrücken.


Im Topf jetzt die Zwiebel fein würfeln und in Butterschmalz (oder auch nur Butter) bei niedriger bis mittlerer Hitze golden schwitzen. Die Hälfte der Speckwürfelchen dazu geben und mitschwitzen (die andere Hälfte wird später gesondert in einem kleinen Pfännchen kross gebraten für den Crunch). Nach etwa fünf Minuten den Grünkohl dazugeben und mitanschwitzen, den Bauchspeck oder Kasseler sowie die Würste hineinlegen, danach die Brühe angießen und bei niedriger Hitze etwa 40 Minuten köcheln lassen. Danach zuckern, pfeffern, den Senf einrühren, die Haferflocken hineinstreuen und noch einmal eine halbe Stunde köcheln lassen. Parallel die Kartoffeln schälen und in ordentlich Salzwasser gar kochen.

Am Ende die Speckwürfelchen, wie erwähnt, kross braten und den Grünkohl mit Chili würzen sowie bei Bedarf mit noch etwas Salz abschmecken. Noch besser schmeckt er, wie so viel Kohl, aufgewärmt. Und dann kann man aus den restlichen Salzkartoffeln Bratkartoffeln brutzeln, die für noch mehr Crunch als Gegengewicht zum schlotzigen Kohl sorgen und noch besser passen. „Erst die Reifung macht den runden Geschmack aus. (…) Jeder Heiz- und Abkühlzyklus, so seltsam es klingt, trägt nicht nur zur Haltbarkeit über die jeweilige erneute Pasteurisierung, sondern auch zur Aroma- und Geschmacksbildung bei“, schreibt Deutschlands großer Gastro-Physiker Thomas Vilgis in seinem famosen Buch „Der Gastronaut“ (S. 260). Das hier schmeckt mehrfach famos.
Musik zum Menü
Grünkohl heißt im Englischen „kale“. Was ich hier kredenze, kommt von „Kaleo“ – wenngleich aus Island. Aber die Nummer ist ne Wucht. Und „I can’t go on without you“ könnte man, überspitzt gesagt und zart dramatisiert, auch über das Miteinander zwischen Grünkohl und mir sagen.
Lieber Ole,
Super Beitrag über den Grünkohl und wunderschöne Bilder dazu. Ich finde den Grünkohl nämlich ebenfalls nicht nur super schmackhaft sondern auch in der Tat ziemlich fotogen. Diese unglaublich filigranen Blattränder und Rüschungen…. einfach fantastisch! Da hab‘ ich jetzt noch mal richtig was dazugelernt, über dieses großartige Gemüse, welches hier im Süden von Deutschland bei weitem nicht so allgegenwärtig und bekannt ist, wie im Norden.
Prima auch Deine Brücke von Kale zu Kaleo…. als Island-Fan mag ich die auch ziemlich; aber auf die geniale Idee wäre ich nimmer gekommen!
Liebe Grüße aus dem Wohnzimmer im Süden von München,
Amalie
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Das freut mich immens! Tausend Dank Dir!
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