
In meinem Leben hat Zeit zuletzt eine Gemeinsamkeit entwickelt mit Mehl oder Klopapier während der Hamsterkauf-Phasen, mit Erdgas – oder aktuell auch Kohlensäure in der Getränkeindustrie: Sie ist Mangelware, nur selten frei verfügbar, mir selbst dafür umso teurer und mitunter hart umkämpft. Lecker essen möchte man natürlich trotzdem, und so ist „das unglaublich einfache Süßkartoffel-Wunder“ eins der Gerichte, denen ich mich gerade jetzt im knisterkälter werdenden Herbst gern widme: Super simpel, mit wenigen Handgriffen gemacht, zugleich aber raffiniert, sagenhaft lecker. Dampfend heiße, ofenfrische Süßkartoffeln, zartschmelzend von innen, auf deren oberster Schicht Butter zu einer hauchfeinen Knusperkruste karamellisiert ist, treffen eine kühle Creme. Darin trinken die sanftmütige Süße von Ahornsirup, die kecke Säure frisch ausgepresster Limetten und die vielschichtige Vollmundigkeit von Fischsauce mit der Milde von saurer Sahne Brüderschaft. Angefeuert von etwas Pfefferpfiff, aber insbesondere von frischen Chilis (und, wer mag, auch noch etwas drübergestreutem Chili-Pulver). Noch spannender für den Gaumen wird das Ganze übersprenkelt vom Knack frischer Frühlingszwiebelringe und Limettenzesten sowie dem Crunch gerösteter Erdnüsse. Doch mag ich es auch sehr, mit Bekanntem zu spielen, es kreativ anzuverwandeln – und so habe ich eine neue Version ausgeheckt.
Denn meinem kleinen, feinen Lieblingsrestaurant, dem Hotel zur Post in Wiesmoor (unbezahlte Werbung durch Namensnennung), gibt es eine schöne Tradition: den Gruß des Hauses. Bevor die raffiniert geschichteten Gerichte auf den Tisch getragen werden, gibt es ein paar Scheiben selbst gebackenes Brot. Dazu: einen Dip aus Crème fraiche oder Quark, Gurken, Zwiebeln und rotem Pfeffer und feinst geschnippeltem Schnittlauch. Ich habe nie nach dem echten Rezept gefragt, vielmehr wie Tim Mälzer bei „Kitchen impossible“ aber versucht, dem Original nahe zu kommen. Und diesen Dip gibt es hier zu Hause inzwischen fast als Allzweckwaffe, weil er so vieles bereichert, veredelt, dazu schmeckt: Kartoffel-Reibekuchen, Baguettebrot, Gemüse, auch mal ein Stück Fleisch – und eben diesen Dip habe ich jetzt mit den wundertollen Süßkartoffeln gepaart.

In diesem Fall nun knuspert die Süße der Süßkartoffeln heiß im Ofen auf und wird umarmt von der cremigen Kühle der Crème in ihrer zarten Salzigkeit, bei der die Gurken luftig-leichte Milde und ebenso ein wenig Biss hineinbringen wie die rohen, roten Zwiebeln in ihrer neckischen Bitzigkeit. Was sich bis hierhin noch fast als verwirrtes Tzatziki tarnen könnte, dem fehlt aber das energisch Bevormundende des Knoblauchs, gewinnt zugleich aber durch den roten Pfeffer mit seinem süßscharfen Wagemut neue Facetten und kleine pfeffrige Crunch-Explosionen zwischen den Backenzähnen. Wie Knister-Eis mit Petazeta, nur für Erwachsene. Durch den zusätzlichen Spritzer Säure und die milde Salzigkeit gerät das Ganze nicht zu süßlich im Kontrast zu den Süßkartoffeln, und die Kräuter bringen bei Schnittlauch noch etwas herb-brüske Frische, bei Zitronenverbene noch milde Zitrusfrische und bei Dill, ja nun, was Dill ebenso mitbringt und man mögen kann oder auch nicht.

Zutaten
Für die Süßkartoffeln
4 mittelgroße Süßkartoffeln, jede um die 200 Gramm schwer,
Butter zum Bestreichen (pro Hälfte nen Teelöffel in etwa)
Feines Meersalz
Für die Crème
1 Becher Crème Fraîche oder Saure Sahne à 200 Gramm
(griechischer Joghurt in der Vollfettvariante tut es auch)
etwa 4-5 cm einer Gurke, im Zweifel geschält, fein gewürfelt
1/2 rote Zwiebel, fein gewürfelt
1 ordentliche Prise Salz (1/3 Teelöffel, würde ich sagen)
1 Prise Zucker
1 Esslöffel Speiseöl
1 Spritzer Limettensaft, Cranberrysaft oder etwas anderes fruchtig Saures (optional)
1 Teelöffel rote Pfefferkörner
ein wenig frischen Schnittlauch und/oder Zitronenverbene, fein gehackt (auch ein Hauch Dill kann hier ne Option sein)

Wie wird’s gemacht?
Auch diese Variante ist mit nur sehr wenigen Handgriffen (und etwas mehr Zeit) zubereitet.
Den Backofen auf 200° C vorheizen. Währenddessen die Süßkartoffeln unter fließendem Wasser gründlich abschrubben (nicht schälen, die Schale wird später köstlich zartknusprig und ist essbar). Danach der Länge nach halbieren, mit der Schnittfläche nach oben in eine ofenfeste Form legen, mit der Butter bestreichen und jeweils eine ordentliche Prise Salz darüber sprinkeln.
Die Ofenform zunächst mit Alufolie zugedeckt in den heißen Ofen schieben und so etwa 20 bis 30 Minuten lang garen lassen. Danach die Alufolie abnehmen und weitere 20 bis 30 Minuten backen lassen, auf dass die Oberhitze die Süßkartoffeln knusprig röstet (zwischendurch einen Blick werfen, dass da nichts dunkel wird und anbrennt – Öfen sind ja mitunter sehr rätselhafte Gestalten, die ihre Hitze auf gefühlt sehr unterschiedliche Weise und mit verschieden viel Schmackes abgeben). Dann vorsichtig rausnehmen und außerhalb des Ofens nochmals etwa fünf Minuten ruhen lassen.
Für die Creme die halbe Zwiebel fein würfeln, wie auch das Stück Gurke (wer es lieber mag, schält sie vorher, aber das liegt an Euch). Beides in eine Schale geben. Die Saure Sahne/Crème Fraîche dazugeben, den Löffel Öl dazugeben und glattrühren. Mit den Prisen Salz und Zucker abschmecken und, je nachdem, wie säuerlich die Crème bis hierhin ist, noch mit einem guten Spritzer Limettensaft, Cranberrysaft (für Histamin-Intolerante) oder einer anderen fruchtigen Säure ausbalancieren.
Schnittlauch oder Zitronenverbene (oder eventuell Dill) feinhacken und zusammen mit den roten Pfefferkörnern drüber streuen.
Die heißknusprigen Ofen-Süßkartoffeln aus dem Ofen nehmen, auf Teller drapieren und mit der Crème samt Kräutern und Pfeffer garnieren.
Fertig.


Musik zum Menü
Das Ganze hat Wucht, hat Süße und Wumms und besticht durch seine Einfachheit. Das gilt auch für „Bleed American“, einen der großen Hits vom legendären Album „Clarity“ von Jimmy Eat World. Einem meiner Lieblingsalben. Und die Refrainzeilen „I was spinning free, woo-ooo-ooo-oo-oo-oooh, with a little sweet and simple numbing me“ mögen auch für dieses Gericht gelten. Da kann man vor Überschwang auch ein bisschen freidrehen. Ebenso wie beim Song.
Und wo wir bei Süße sind, bei „Sweetness“, fällt der Brückenschlag leicht zu einem der ganz großen Hits der „Smiths“, „Bigmouth strikes again“, der ja mit eben diesem Wort beginnt. Und so verstörend ich jüngere politische Äußerungen von Morrissey zuletzt immer wieder gefunden habe, ändert das wenig an der Brillanz des Songs.
Und um bei „Sweet“ weiterzumachen, nein, The Sweet werden hier nicht auftauchen: Aber „Sweet Adeline“ des grandiosen Elliott Smith (Gott hab ihn selig) von seinem Meisterwerk „XO“.
Hallo Ole,
wieder was gelernt – in Ostfriesland gibt’s ein Restaurant, das ich mal besuchen möchte. 😉
Sonst geht’s mir genauso wie Dir – sooo wenig Zeit! Da sind solche Gerichte Gold wert. Vielleicht wird das auch eines meiner neuen Wenig-Zeit-Standards. 🙂
Liebe Grüße
Barbara
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Das Restaurant ist unbedingt besuchenswert! Und das Gericht mag ich wirklich sehr, auch und besonders im Original, das im Text verlinkt ist – und ist neben der sensationell simplen und genialen, hier ebenfalls schon vorgestellten Tomatensauce von Marcella Hazan einer meiner Lieblingsquickies. 🙂
Liebe Grüße zurück
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Das klingt ja toll!
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Hui! Das ist ja mal schön geschrieben und beschrieben! Und was für ein toller Text! Es ist mir eine Freude, hier zu lesen! 😀
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