
In Ostfriesland knuspert und kracht jedes neue Jahr und es birst vor Krümeln. Die brechen aus frisch gebackenen Neujahrskuchen, verheddern sich in den Maschen der Pullis, purzeln in den Schoß, kullern in Sofaritzen, bevölkern Bärte und Schals, rieseln auf den Wohnzimmerteppich – teils versehentlich zertreten. In Ostfriesland, dort wo man stellenweise montags sehen kann, wer donnerstags zu Besuch kommt, werden zum Jahreswechsel nicht nur mithilfe von Karbid zerbeulte Milchkannen unter riesigem Getöse mit selbstgebauten Kanonen über Viehweiden geschossen.
Die Eigenartigkeiten meiner Heimathalbinsel beginnen schon am Silvestertag. Da pilgern zumindest im südlichen Teil der Wiesenweiten Horden von Menschen in Mühlen und Dorfgemeinschaftshäuser, wo höchst Seltsames in Waffeleisen, Fritteusen oder auf heißen Platten brutzelt: Speckendicken. Die so benannten Teile machen ihrem fetthaltigen Namen alle Ehre: Aus meist geheimen Mischungen von Buchweizen-, Roggen- und Weizenschrotmehl gebackene Teiglinge, die mit dunklem oder hellem Zuckerrübensirup durchrührt eine schwere Süße haben, mit Anis, Kardamom und manchmal auch Zimt gesüßt werden – dabei aber als dicke Pfannkuchen oder Waffeln eine für fremde Zungen sehr ungewohnte Wendung ins Deftige nehmen, weil darin auch (Koch-)Mettwurstscheiben und/oder Bauchspeck oder Bacon brutzeln. Das Ganze kann bei übermäßigem Genuss wie ein Senkblei den Magen bodenwärts ziehen. Und man sagt, es braucht einige Versuche, bis man sie überhaupt runterbekommt. Zwischen Abscheu und abgöttischer Liebe für die Teile ist ein schmaler Grat, meist schlägt das Geschmackspendel sehr deutlich in eine der Richtungen. Ich mag sie inzwischen durchaus gern, wobei ich die um süße Säure erweiterten fantastischen niederländischen Appel-Pannekoeken met spek noch weit stärker liebe.

Doch um Speckendicken geht’s hier nur am Rande. Sondern um knusperkrachend Köstlicheres: Rund um den Jahreswechsel wird in fast jedem Haushalt, gern zum Tee, eine Köstlichkeit serviert, wie man sie ähnlich und knuspriger kaum findet: Neujahrskuchen. Auch „Rullerkes“ genannt oder auf Platt „Neeijahrskoken“. Wer nicht aus den Riesenwiesenweiten kurz vor der tosenden See stammt oder dort den Jahreswechsel mal zugebracht hat, dem entgeht in diesem Fall etwas. Kuchen ist völlig irreführend, denn eigentlich sind es hauchfeine, knusprige Waffeln, die beim Biss hinein krachen, zu köstlichem Staub und Knusperbruch zerkrümeln und dann Tisch und Fußboden vollbröseln. Es sei denn, man lässt die Blechdose offen, in der sie lagern, denn sie ziehen Feuchte magisch an und werden dann labbrig, zäh und gummiartig wie ein lebensmüder Waschlappen. Aber wer lässt schon die Dose offen? Es soll doch knuspern!

Mancher nutzt auch alte Milchkannen (die, die nicht mit Karbid über die Weide gedonnert wurden), um darin die zerbrechlichen Köstlichkeiten aufzubewahren. So oder so: Ratzfatz sind sie weg, weil viel zu lecker. Wer nicht ganz so puristisch unterwegs ist und seine Hüfte vergolden mag, kann noch Sahne, gern mit etwas Zimt bestreut, dazu schlagen. Vielleicht mit einem kleinen Schlag Bratapfel-Gelee. Verschlungen wird das Ganze zu frisch aufgebrühtem Tee. Bevorzugt.


Nun sind Waffeln, auch derart dünne, die vielleicht halb so dünn sind wie Eiswaffeln, keine Erfindung der Ostfriesen. Hohlhippen nennen Fachleute die Teile, in anderen Teilen des Landes gibt es nahe und entfernte Verwandte, die sich je nach Gegend mal Eiserkuchen, mal Krüllkuchen, Piepkuchen oder auch Klemmkuchen nennen und jeder für sich deutlich dünner und knuspriger als übliche Waffeln ausgebacken wird, in ganz besonderen Waffeleisen. Auch im Emsland kennt man Neujahrskuchen, aber – Pardon, liebe Emsländer – wie blass, fad und lahm schmecken sie dort. Als bisse man in gezuckerte Wellpappe. Höchstens mit einer kleinen Prise Vanille gewürzt, sind sie vor allem teigig und süß. Und man möchte zu ihnen sagen: „Du bist so langweilig, wärst Du ein Gewürz, wärst Du Mehl!“ In Ostfriesland hingegen betören die knusperkrachend krossen Neujahrskuchen die Sinne mit der heiligen Dreieinigkeit von Anis (gern im ganzen Samen, das knuspert noch mehr), Kardamom und Zimt, und eine zarte Salznote kontert die Zuckersüße. Das Salz pointiert die Süße, hindert die Teile daran, zu sehr ins Zuckrige zu kippen und sorgt zugleich dafür, dass man bei gleichem Genuss weniger Kluntjes braucht.

Die Waffeln zuzubereiten, ist kinderleicht: Man muss nur dem Teig eine Nacht zum Ruhen geben. Er sollte am Ende zähflüssig vom Teller tropfen, nicht kleben bleiben, aber auch nicht dünn fließen. Und man braucht ein entsprechendes Waffeleisen und im besten Fall noch einen Neujahrskuchen-Roller oder Hörnchenformer. Einen spitz zulaufenden runden Holzkegel. Denn sobald das Waffeleisen piept und der Teig gar ist, hat man nur etwa fünf Sekunden Zeit, die flache Scheibe um sich selbst zu drehen und ihr eine dritte Dimension zu verleihen. Wartet man länger, bricht’s alsbald oder lässt sich gar nicht mehr krümmen. Wer hitze-empfindliche Fingerkuppen hat, kann sich überlegen, ob er lieber eine(n) Freund(in) mit etwas mehr Hornhaut an den Fingerspitzen fragt. Das Ganze ist nicht dramatisch heiß, aber Stahl wird auch nicht kalt geschmiedet und schon gar nicht bewegt er sich kalt noch großartig.


Wer kein solches Hörncheneisen besitzt: Warum nicht einfach eins kaufen? Man kann damit ja grundsätzlich das ganze Jahr hindurch knusprige Waffeln backen – sei es in der Neujahrskuchenwürze, sei es in ganz neuen Kreationen, oder man macht einfach selbst Eiswaffeln.
Auch in Ostfriesland hat jede Familie ihr eigenes Geheimrezept, das sich in aller Regel ein wenig im Verhältnis von Zucker, Wasser, Eiern, Mehl und Gewürzen unterscheidet. Ich liebe dieses, das ich von meiner Ziehoma Hanna entlehnt habe, der inzwischen fast 93 Jahre alten Nachbarin meiner Eltern, die mehr Oma für mich war als es meine leiblichen Großmütter je konnten. Allerdings habe ich die Menge an Zucker mehr als halbiert.


Und besonders famos schmecken sie mit frisch geschlagener Zimtsahne, die in den Hörnchentrichter gelöffelt wird – und, das tun die wenigsten, aber es ist so unglaublich großartig, bestreut mit ein paar frischen Granatapfelkernen.
Habt ein schönstmögliches, gesundes, erfrischendes, begeisterndes, positiv überraschendes, wundertolles neues Jahr! Möge kein Sektkorken in Eure Augenhöhle geknallt sein, der Kater höchstens auf dem Schoß schnurren und nicht hinter der Stirn dröhnen. Mögt Ihr gut durch die Nacht gekommen sein, nah an Euren Wünschen. Und möge auch das kommende Jahr Euren Wünsche nahekommen, positiv überraschen. Möge, was immer Euch widerfährt, Euch möglichst oft glücklich machen, Energie schenken, beflügeln, begeistern, verwöhnen, verführen, Zunge schnalzen lassen, jauchzen, frohlocken. Auf dass Ihr möglichst wenig Anlass habt, Frustschutzmittel zu trinken, Sorgen Euch wenig bedrücken, die Tränenkanäle trocken bleiben. Schön, dass es Euch gibt. Danke, dass Ihr dabei seid.

Zutaten für die Neujahrskuchen oder Eiserkuchen
500 Gramm Mehl
125 Gramm Butter
200 Gramm Kluntje (Kandiszucker)
600 Milliliter Wasser
1 Teelöffel Salz
3 Eier
20 Gramm Kardamom (1,5 Esslöffel)
15 Gramm Anis (bevorzugt ganze Samen)
10 Gramm Zimt
Für die Zimtsahne:
200 Milliliter Sahne
2 Teelöffel Zimt
1 Esslöffel Zucker
1 Prise Salz
Zum Garnieren: frisch ausgepulte Granatapfelkerne

Wie macht man’s?
Wie gesagt, den Teig am Besten am Abend vorher ansetzen, damit er über Nacht ziehen kann.
Zunächst 600 Milliliter Wasser aufkochen. Damit in einem kleinen Kochtopf die 200 Gramm Kluntje oder Kandiszucker sowie den Teelöffel Salz übergießen und darin auflösen. Abkühlen lassen.
Die Butter in einem gesonderten Topf (ich habe ein Thermomix-Derivat genommen) erwärmen und schmelzen. Darin die Gewürze einrühren, weil warmes Fett die Aromen besonders gut löst. Ebenfalls abkühlen lassen.

Die Eier sowie die Kluntjesuppe/Zuckerlösung hineingeben und mit dem Schneebesen oder dem Rührmesser der Küchenmaschine schaumig schlagen.
Dann nach und nach das Mehl einrühren. Wenn alles Mehl eingerührt ist, kühl stellen (man will ja Salmonellen keinen Einzugsort bieten) und über Nacht ziehen lassen.

Danach am nächsten Tag große Blechdosen bereit stellen (die Waffeln sind etwas platzraubend in der Aufbewahrung, zumindest so lange sie noch nicht zu Krümelstaub zerfallen sind), das Waffeleisen schön heiß machen, und dann jeweils einen großen Schöpflöffel (etwa zwei Esslöffel) Teig auf die Platte gießen, schnell und fest zudrücken, auf dass es zischt und fiept und dann entweder ein Gefühl dafür entwickeln oder auf den Piepton des Eisens (falls vorhanden) achten. Dauert meist um die 30 Sekunden, bis der Waffelteig golden geworden ist. Schnell rausnehmen und am besten an eine zweite Person geben, die die flache Waffel dann binnen der nächsten fünf Sekunden mit dem Hörnchenformer aufrollt. Wer sowas nicht hat, kann auch eine Gabel zum Aufdrehen nehmen. Ist aber deutlich weniger komfortabel. 🙂
Abkühlen und trocknen lassen. Danach in einer gut verschlossenen Blechdose aufbewahren. Weil wabbelige Waffeln will wirklich niemand. 🙂
Wer nun gar kein entsprechendes Waffeleisen sich schnappen kann, kann aus dem Teig unter Verzicht auf die Zuckerlösung und indem man stattdessen Milch zugibt, auch Pfannkuchen backen. Dann aber knuspert, kracht und krümelt es beileibe nicht so herrlich, aber man futtert zumindest die tollen Aromen.

Musik zu den Neujahrskuchen
In keiner Weise, weil es ein überragender Song wäre, aber er passt und ich stimme ihm zu: „Waffles are better than pancakes“. 🙂
Die famosen Neujahrssongs von Death Cab For Cutie und Gisbert zu Knyphausen habe ich Euch im jüngsten Beitrag zur fantastischen, bei „Dinner for one“ kredenzten Mulligatawny Soup schon serviert. Aber da gibt’s zum Jahreswechsel ja noch mehr schon. Zum Beispiel vom grandiosen, zum Reibeisen gewordenen Knurrhahn Tom Waits: „New year’s eve“.
Ebenfalls famos: „New year“ von den wundervollen Indie-Königen von Beach House.
Von mir über Jahre eher belächelt, als scheinbares Pop-Sternchen in ihrer künstlerischen Strahlkraft unterschätzt: Taylor Swift. Dabei kann und schafft sie Grandioses. Dazu zählt auch „New year’s day“.
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moin Ole,
ich habe auch ein altes, 70er Jahre Eiserwaffeleisen. Allerdings in eckig, und man bekommt beim Backen 8 kleine Quadrate Eiserwaffeln/Zimtwaffeln. Ich habe ewig keine Eiserwaffeln mehr gebacken, mein Rezept ist ähnlich zu deinem (auch mit Kluntjes in kochendem Wasser). Auch habe ich schon lange vor, das Eisen mal wieder aus dem Schrank zu holen….
Anis kann ich nicht leiden, Kardamom auch nicht so, aber Zimt. Zimt und Vanille müssen bei mir in die Waffeln rein. Ich glaub ich back bald mal wieder welche…. Das wäre auch wieder was für meinen Blog…
Liebe Grüße schickt dir Karin
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Moin, Kluntjes sind große Kristalle von ….Industriezucker!
Aufgelöst in Wasser kein Unterschied zu ‚normalem‘ Zucker, oder doch? Meine Frage im web wurde eher emotional als sachlich beantwortet…
Was sagt Ole dazu?
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Ich weiß nicht, ob es in der Tradition verhaftet ist, dass man hier früher vor allem Kluntjes hatte. Ich hab mich das auch gefragt. Im Zweifel sind vielleicht noch Rieselhilfen beim feinen? Ich finde, Kluntje zieht schlieriger. Was null wissenschaftlich fundiert ist. Klappt in jedem Falle aber auch mit in Kochwasser aufgelöstem Zucker. Das würde ich aber tun, damit er sich feiner verteilt. Ich hab beides zuhause. 🙂
Liebe Grüße
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Lieber Ole,
Schon beim Lesen konnte ich mitknuspern und mir vorstellen, wie ich krampfhaft meine Schubläden durchwühle auf der Suche nach einem Rullerkesformwerkzeug. „Hohlhippe“ wird mein Wort dieses Jahres. Es klingt so gar nicht nach einer hauchzart knuspernden Köstlichkeit. Eher wie ein Schimpfwort. Ein ziemlich schönes allerdings.
Meine Tochter hat mein Waffeleisen auf dem Gewissen. Vierzig Jahre diente es erst meiner Oma, dann mir. Bis meine Tochter es entdeckte.
Verführerisch schön geschrieben, vom leckersten Hüftgold.
Hab es gut und liebe Grüße
Amélie
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Lieber Ole, ich hoffe, Du feierst Deinen Geburtstag mit einem rauschenden Fest. Herzlichen Glückwunsch!
Stell dir vor, ich bin seit 2 Jahren stolze Besitzerin eines Hörncheneisens. Meine allerbeste Freundin, die in Oldenburg aufgewachsen ist, hat mir eins geschenkt, zusammen mit dem Familienrezept. Offensichtlich packe ich mehr Zucker hinein, obwohl ich nicht sagen kann, dass sie mir zu süß sind: https://bistroglobal.de/krollkuchen-feiertagsgrichte-aus-der-ganzen-welt/.
Meine Enkel lieben die Krollkuchen und ich auch.
Viele Grüße in den hohen Norden, Regina
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Du schreibst einfach die allerschönsten Texte, lieber Ole! Ich bin jetzt sehr bereit für ein neues Waffeleisen und merkwürdigerweise auch für Speckendicken! Das klingt ja so schräg, dass ich es auf jeden Fall probieren würde! Und ich bin ein großer Fan der niederländischen Apfelpfannkuchen mit Speck, da kann doch dann eigentlich kaum was schiefgehen?! Vielleicht bin ich auch einfach bereit für einen Urlaub in Ostfriesland voll kulinarischer Entdeckungen… Danke, dass Du uns immer wieder so liebevoll (und liebevoll ironisch) von Deiner Heimat erzählst!
Wunderschöne Fotos übrigens! Die Hörnchen in diesem Licht und Gegenlicht zu fotografieren war eine tolle Idee! 👌🏻
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Lieber Ole!
mein Jahr startet ein bisschen holperig, weil ich eine Renovierungsaktion im Nacken habe (buchstäblich, denn es handelt sich um mein Büro). Aber gerade las ich Deinen Newsletter vom 03.01. und hatte die spontane Idee, ob wir beide daraus vielleicht recht kurzfristig eine telefonische Podcastfolge machen könnten?
Wenn Du also a) Zeit und b) die Möglichkeit hast, (nur!) Deinen Anteil an unserem Gespräch aufzunehmen (Sprachnotiz auf iPad oder Handy reicht), dann wäre das wunderbar! Ich bastle unsere beiden Audios dann zu einer Podcastfolge zusammen, die in etwa 20-25 Minuten dauern soll. Das wäre dann auch das Zeitfenster für unser Telefonat (+ je etwa 5-10 Minuten zum warmwerden und auskühlen), also maximal 45 Minuten Zeitaufwand für Dich.
Wie sieht es zeitlich nächste Woche bei Dir aus? Mir würde es vorzugsweise am Mo-, Di- oder Mi-Abend jeweils zwischen 19 und 21 Uhr gut passen.
Ich würde Dir zum Einstieg 1-2 Fragen zur Person und die besonderen Ereignisse des letzten Jahres stellen, und dann soll es um Neujahrskuchen und Speckendicken gehen.
Zur Unterstützung der Podcast-Reichweite wäre es wunderbar, wenn Du mir dabei hilfst, unser Interview anschließend in den sozialen Netzwerken und vielleicht ja sogar über Deinen Newsletter zu verbreiten. Mindestens würde ich gerne das Teilen meiner Storys zu unserer Folge voraussetzen können.
Schreib mal bitte zurück, ob Dir das lieb und möglich wäre – auch wenn nicht!
Herzlichst Sabine
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